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LIKE A COMPLETE UNKNOWN: Bob Dylan, der ewig Unbekannte

James Mangolds Künstlerporträt LIKE A COMPLETE UNKNOWN erzählt, wie Folklegende Bob Dylan einst die Akustikgitarre beiseite legte und sich stattdessen mit Strom dem Rock’n’Roll zuwandte – ein Affront für viele damalige Fans. Unser Gastautor Dr. Wily, ausgewiesener Dylan-Liebhaber und -Auskenner, berichtet über den Film.


Bob Dylan (Timothée Chalamet) und seine junge Liebe Sylvie Russo (Elle Fanning).

You, who are so good with words
And at keeping things vague Joan Baez, 'Diamonds and Rust' (1975)

Wenn es die Aufgabe des Künstlers ist, der Welt gegenüber unabhängig zu bleiben und nicht daran teilzunehmen, um sie unvoreingenommen betrachten und analysieren zu können, dann ist der Bob Dylan aus LIKE A COMPLETE UNKNOWN ein Lexikonbeispiel für einen Künstler.

Doch beginnen wir am Anfang. Regisseur James Mangold und sein Drehbuchautor Jay Cocks erzählen uns hier vier zentrale Jahre aus Bob Dylans Leben. Zwischen 1961 und 1965 wird der junge Mann vom talentierten Folksänger zum Rockstar und der Stimme einer Generation. Wir folgen Dylan (Timothée Chalamet), wie er nach New York kommt, in die pulsierende Folkszene eintaucht, zu ihrem Star und Aushängeschild wird, einige der größten Songs des 20. Jahrhunderts schreibt – und sich am Ende abwendet, indem er zur E-Gitarre greift und Rock’n’Roll spielt. Ein No-Go für die Folkpuristen.

Es sind die Jahre, die seinen mythologischen Ruf bis heute begründen – und tatsächlich kann sich der Output dieser Zeit sehen lassen. Alleine von April 1962 bis August 1965 entstehen Songs wie „Blowin‘ in the Wind“, „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“, „Masters of War“, „Don’t Think Twice, It’s Alright“, „The Times They Are A-Changin'“, „Mr. Tambourine Man“, „It’s All Over Now, Baby Blue“, „Subterranean Homesick Blues“ und „Like a Rolling Stone“. Der Film nimmt sich für alle diese Songs – und noch viele mehr – ausgiebig Zeit. Wenn Dylan zur Gitarre greift und die Stimme erhebt, erstarren alle in Ehrfurcht. Auch die Kamera kann sich nicht lösen von diesem Mann und seinen Liedern. Es ist keine kleine Leistung von James Mangold und seinen Schauspielern, dass sie ausgenudelten Lagerfeuerhadern wie „Blowin‘ in the Wind“ irgendwie noch einmal den Zauber abgewinnen, den sie damals gehabt haben müssen.

Vorschlag für das Albumcover vom Soundtrack.

Timothée Chalamet spielt Bob Dylan cool und losgelöst von allem und jedem, aber mit einer starken Antenne für Stimmungen um ihn herum. Er nimmt Persönliches wie Gesellschaftliches auf und verwandelt es in Nullkommanichts in legendäre Lieder. Doch seinen Mitmenschen gegenüber bleibt er vage, entkoppelt, unverbindlich. Diesen Kernkonflikt um die persönliche und künstlerische Freiheit seines Protagonisten erzählt dieser Film vor allem über drei Beziehungen.

Zum einen ist da Bob Dylans Freundin Sylvie Russo (Elle Fanning). Sie ist Aktivistin und Künstlerin und wünscht sich von ihm eine verlässliche und vertrauliche Partnerschaft auf Augenhöhe. Doch Dylan ist das zu eng. Mich erinnert ihre Beziehung an eine Szene aus Cameron Crowes JERRY MAGUIRE (1996):

Jerry: What do you want? My soul or something?
Dorothy: Why not? I deserve that.
Jerry: What if I’m not build that way?

Irgendwann lässt sich Sylvie seine Distanziertheit und Unaufrichtigkeit nicht mehr gefallen und erkennt am Ende, dass ihre Vorstellungen andere sind als seine.

Dann die Folksängerin Joan Baez (Monica Barbaro), selbst eine musikalische Legende und damals schon ein veritabler Star. Die Anziehung zwischen den beiden wird hier vor allem über die Musik erzählt. Wenn diese zwei gegensätzlichen Stimmen miteinander singen, entsteht eine Verbindung, die sie sich wohl selbst nicht ganz erklären können, der sie aber bereitwillig nachgeben. Auch Joan Baez hat irgendwann genug von diesem Mann, von dem sie nicht weiß, was er eigentlich von ihr will, und der mit ihr, ihrer Szene und ihren Überzeugungen nichts zu tun haben will. Gut miteinander singen zu können, reicht nicht.

Als stets aufrichtiger Pete Seeger hat Edward Norton das Herz des Films gepachtet.

Nicht zu vergessen: Pete Seeger (Edward Norton), der legendäre Pate der Folkszene dieser frühen 1960er Jahre. Seeger ist Performer, Bürgerrechtsaktivist, Organisator und Idealist. Er träumt davon, alle zusammen zu bringen – Musiker wie Publikum. Seine Vision ist es, durch Folkmusik die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Seeger ist davon überzeugt, dass gemeinsames Singen Zusammenhalt kreiert. Doch Bob hat andere künstlerische Ambitionen und Ideen als sein Mentor Pete.

Was und wieviel Dylan von dem, was er schreibt, auch wirklich glaubt, lässt Chalamet in seiner Perfomance offen. Wenn er am Mikrophon steht und singt, dreht er seine Augen nach oben und starrt in eine eigene Welt, versetzt sich an einen anderen Ort. Was er zu all dem fühlt und wo er persönlich steht, bleibt undeutlich. Sein Bob Dylan wird nur emotional, wenn andere zu viel von ihm wollen. Und es wollen ganz viele Menschen ganz viel von ihm. Dann reagiert er kämpferisch, kratzbürstig, beleidigend und wird unsympathisch. Sein wichtigstes Gut ist die Unabhängigkeit. Er will sich von nichts und niemandem vereinnahmen lassen und schlägt sofort Haken, wenn ihm jemand zu nahe kommt. Damit stellt der Film aber auch die wichtige Frage, ob es überhaupt eine Rolle spielt, was Dylan selbst wirklich denkt – wenn doch diese Lieder so vielen Menschen so viel bedeuten.

Wir finden in LIKE A COMPLETE UNKNOWN vieles von dem, was James Mangolds Filme bisher auszeichnete: Das New York der 1960er Jahre ist detailreich und komplex, Dylans Welt fühlt sich lebendig und echt an. Mangolds Filme sind auch oft eine Bühne für bemerkenswerte schauspielerische Darbietungen: Sylvester Stallone in COPLAND, Angelina Jolie in GIRL, INTERRUPTED, Joaquin Phoenix in WALK THE LINE. LIKE A COMPLETE UNKNOWN bleibt da nichts schuldig. Neben Timothée Chalamet, der sich völlig in Bob Dylan verwandelt, spielt Monica Barbaro eine selbstbewusste Joan Baez, die sich nicht für dumm verkaufen lässt. Elle Fanning darf als nicht weniger kluge, unabhängige und bodenständige Sylvie Russo endlich eine erwachsene Rolle spielen. Ihre Figur beruht auf Suze Rotolo, Bob Dylans ehemaliger Lebensgefährtin (man kennt sie vom Cover des Albums THE FREEWHEELIN‘ BOB DYLAN), und ist die einzige, die nicht ihren tatsächlichen Namen trägt. Edward Nortons Pete Seeger ist ein Mann voller Güte, Aufrichtigkeit und Verbindlichkeit. Ein herzig-sympathischer Onkel, der in Bob Dylan den Kronprinzen sieht, der die Folkmusik endlich in den Mainstream tragen wird. In ihren Memoiren beschreibt Suze Rotolo den Status von Pete Seeger so:

Pete Seeger, however, was the man behind the music. […] he sang everywhere and anywhere he could, from concert halls to schoolrooms to summer camps. Pete Seeger planted the seeds and taught us all to sing.Suze Rotolo, A FREEWHEELIN' TIME: A MEMOIR
OF GREENWICH VILLAGE IN THE SIXTIES (2009)

Es bricht einem das Herz, zuzusehen, wie seine Träume kurz vor dem Ziel zerplatzen, weil Dylan sich nicht vereinnahmen lassen will. Die Tage des Folk als Träger und Stimme der Revolution sind gezählt. Der Rock’n’Roll steht bereit, um das Banner zu übernehmen.

Joan Baez (Monica Barbaro) kommt man besser nicht blöd.

Am Ende ist Dylan auf seinem Motorrad unterwegs in eine selbstbestimmte Zukunft. So betreibt der Film natürlich eine Mythologisierung seines Helden. So wie er zu Beginn frei und ungebunden auf dem Rücksitz irgendeines Autos, nur mit Gitarre und Notizbuch bewaffnet, dichtend und komponierend, über den Hudson River nach New York fährt, ist er auch am Ende wieder allein unterwegs auf der endlosen amerikanischen Straße der Freiheit. Kein Wunder, dass diese Version von Bob Dylan auch dem echten Bob Dylan gefallen hat, der den Film höchstpersönlich abgesegnet hat. Doch immerhin hat LIKE A COMPLETE UNKNOWN verstanden, dass in dieser Freiheit auch eine Beziehungslosigkeit steckt.

How does it feel
To be on your own
Like a complete unknown Bob Dylan, 'Like a Rolling Stone' (1965)

 

Like a Complete Unknown (USA 2024)
Originaltitel: A Complete Unknown
Regie: James Mangold
Buch: James Mangold & Jay Cocks
Kamera: Phedon Papamichael
Darsteller: Timothée Chalamet, Elle Fanning, Monica Barbaro, Edward Norton, Dan Fogler

Dr. Wily
Dr. Wily mag das Alte. Selbst aktuellen Entwicklungen in Musik, Film, Literatur und Computerspiel gibt er oft Monate bis Jahre Zeit, um sich von ihnen einnehmen zu lassen. Mit zunehmendem Lebensalter zieht es ihn vermehrt zu Horror- und Mysterygeschichten hin, nur um sich dann seine Seele doch wieder von Richard Linklater, Jim Jarmusch, Jack Kerouac, Jackson Browne, Paul Simon oder J.D. Salinger streicheln zu lassen. Außerdem kann er nach 15 Jahren Spielpause MEGA MAN 2 aus dem Stand bis ins vorletzte Level durchspielen.

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