TV

KIR ROYAL: Die Sehnsucht nach der heimlichen Hauptstadt

Am Anfang der sechsteiligen Serie KIR ROYAL stand für Helmut Dietl die Sehnsucht nach München. Er lebte seit einigen Jahren in Los Angeles, hatte mit Bernd Eichinger an einer Verfilmung von DIE UNENDLICHE GESCHICHTE gearbeitet, bis klar wurde, dass er die Geschichte nicht nach seinen Vorstellungen umsetzen könnte. Beim München-Besuch dachte er über ein neues Projekt nach, das er Jörn Klamroth vorstellen könnte, dem stellvertretenden Unterhaltungschef beim WDR – und wie Dietl so durch den Englischen Garten flanierte, sich mit Freunden traf und an Michael Graeters Lokal Extrablatt vorbeikam, merkte er, dass er Lust hatte, wieder etwas über München zu erzählen. So erinnert sich Dietl in einem Interview an KIR ROYAL, und es klingt wie eine Heimkehr, als hätte er in seinen vorigen drei Serien MÜNCHNER GESCHICHTEN, DER GANZ NORMALE WAHNSINN und MONACO FRANZE (die schon gedreht, aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgestrahlt war) je von etwas anderem als von München erzählt.

Immer an der nächsten heißen Story dran: Baby Schimmerlos (Franz Xaver Kroetz) und seine leidgeprüfte Freundin Mona (Senta Berger).

München und die Sehnsucht spielen eine große Rolle in KIR ROYAL, und auch die Sehnsucht nach München – nach der „heimlichen Hauptstadt“, die die Stadt zu diesem Zeitpunkt war, ein schon seinerzeit unverschämt teurer Ort, wo sich die Wohlhabenden am schönen Leben erfreuen konnten, wo die Prominenz zu sein hatte, wo man sich wie im gallischen Dorf ganz unabhängig vom Rest von Deutschland fühlen konnte. Durch dieses München zieht tagein, tagaus – und vor allem nachts – der Klatschreporter Baby Schimmerlos (wunderbar kompliziert: Franz Xaver Kroetz), um am nächsten Tag in der „Münchner Allgemeinen Tageszeitung“ in seiner Gesellschaftskolumne darüber berichten zu können, was los war. Schon diese Artikelserie erzählt von München und der Sehnsucht: von den feinen Lokalen, die sich Normalverdiener nicht leisten können, und von den oberen Zehntausend, die sich dort tummeln – und die ihrerseits unbedingt in der Kolumne erwähnt werden wollen, weil sie sonst ja nicht zu den oberen Zehntausend zählen würden. Nicht einmal Schimmerlos selber ist frei von dieser Sehnsucht: Als „Königsmacher“ lässt er die Schickeria gerne nach seiner Pfeife tanzen, aber selber gehört er eigentlich nie dazu. In der ersten Folge trinkt er früh morgens Champagner im Bett, während seine Freundin Mona (ebenso bodenständig wie glamourös: Senta Berger) die Abrechnung macht und ihm erklärt, dass er doppelt so viele Ausgaben wie Einnahmen hat.

Die erste und gleichzeitig auch beste Folge der Serie, „Wer reinkommt, ist drin“, ist eine Miniatur aller Themen, die dann fünf Folgen lang noch weiter untersucht werden, und selbst, wenn es nur bei der einen Folge geblieben wäre, dann wäre KIR ROYAL trotzdem eine brillante, virtuose Erzählung. Da versucht der Industrielle Heinrich Haffenloher (herrlich großkotzig: Mario Adorf), ein völlig unbekannter, aber stinkreicher Klebstofffabrikant (bezeichnenderweise aus einem rheinländischen Kaff, das weiter weg vom glamourösen München nicht sein könnte), verzweifelt, in der Kolumne von Schimmerlos zu landen, um dazuzugehören – damit er „endlich mal die Sau rauslassen“ kann, wie er dem unbestechlichen Reporter verkündet. Berühmt geworden ist Haffenlohers Rede, in der er Schimmerlos bedrängt: „Isch scheiß dich sowat von zu mit meinem Geld, dass de keine ruhige Minute mehr hast“ – aber noch witziger, tragischer und wahrhaftiger ist die Sequenz, in der er erzählt, wie er jeden Tag nur seine langweiligen Generaldirektoren und seine langweilige Frau sieht und endlich einmal etwas von seinem Reichtum haben will. Und Schimmerlos mag noch so sehr darauf bestehen, nicht käuflich zu sein – als Haffenloher der Zeitungsleitung großformatige, teure Anzeigenkäufe in Aussicht stellt, bleibt dem Klatschreporter dank Druck von oben auch nichts anderes mehr übrig, als sich zu beugen. Der mächtige Schreiberling auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten ist eben selber auch nur ein Spielball.

Will endlich zur feinen Gesellschaft dazugehören: Generaldirektor Heinrich Haffenloher (Mario Adorf).

KIR ROYAL steckt voll solcher Brüche und Niederlagen. In der zweiten Folge „Muttertag“ – die sich auch als Abschluss eignen würde, wenn nicht die tatsächliche letzte Folge noch viel endgültiger wäre – hetzt Schimmerlos der nächsten großen Story hinterher, der bislang geheimen Schwangerschaft einer bekannten Schauspielerin, während seine Mutter pflichtbewusst zu ihm in die Wohnung kommt, aufräumt und ihm die Hemden bügelt. Zeit hat er freilich keine für die Mama, die er am Telefon stets nur unwirsch abserviert – und dann stirbt die Frau an einem Herzanfall, und die Szene dazu ist wieder so ein bitterkomischer, tieftrauriger Moment: Schimmerlos ist im Fernsehen zu sehen, und die Mutter ist deswegen so aufgeregt, dass sie zum Schrank eilt, den noch in Geschenkpapier verpackten Videorekorder herauskramt, und über der Verzweiflung, nicht rechtzeitig das Gerät zum Laufen zu kriegen, das Zeitliche segnet.

Inwieweit Helmut Dietl das München, das er in der Serie zeigt, kennt und inwieweit er es imaginiert, ist kaum zu trennen. Für diverse Figuren und Orte gibt es Vorbilder, die damals bei der Fernsehausstrahlung und auch heute noch brav auseinanderklamüsert werden – vor allem der Journalist Michael Graeter, der für die Abendzeitung eine solche Klatschkolumne schrieb, war eine Inspiration und stilisierte sich selbst gerne beinahe zum Co-Autoren hoch. Aber gleichzeitig ist dieses München auch ein Wunschort, der unsere Phantasie anregt, der uns Kopfschütteln und Bewunderung zugleich abringt, in dem sich überlebensgroße Dramen abspielen – und sei es nur das Drama darum, in welchem der vielen angesagten Lokale, deren Speisekarten alle austauschbar identisch sind, Baby Schimmerlos heute dinieren wird. Und Dietl nimmt die Reichen und Schönen zwar aufs Korn, spitzt die Absurdität dieses dolce vita satirisch zu und blickt hinter die Kulissen – aber er macht das auch mit Zärtlichkeit, mit einer großen Zuneigung zu diesen Blendern und Selbstgefälligen. Bei ihm mündet eine Immobilienspekulation mit beiläufiger Korruption schon mal in Ruin und Selbstmord, aber dem windigen Honorarkonsul, der dahinter steckt, gewährt er doch einen Moment des Mitgefühls – der mag mit 39 Millionen Mark verschuldet sein und krumme Dinger drehen, aber schließlich ist er ja auch nur ein Träumer unter so vielen in dieser Gesellschaft.

Brüche im süßen Leben: Baby Schimmerlos sucht Trost bei seiner Mona.

Zur Realität dieses Sehnsuchtsortes München und seiner Protagonisten gehört auch, dass alles bald vorbei sein kann. In der allerletzten Folge verliert Schimmerlos seinen Job, er überwirft sich mit seinem treu ergebenen Photographen Herbie Fried (Dieter Hildebrand), er gibt das bisschen Integrität auf, das er vielleicht irgendwann einmal hatte, und er verliert seine leidgeprüfte Freundin Mona, die schon in der zweiten Folge aufgrund einer seiner vielen Affären das Messer zückte: Sie will nicht mehr sein Anhängsel sein, startet eine Karriere als Sängerin – und weil er nicht an sie glaubt und in seiner Welt ja selber der Star zu sein glaubt, ist hier das endgültige Ende der Fahnenstange erreicht. Mit diesem bitteren Abschluss kommt es einem fast so vor, als hätte auch die feine Gesellschaft keine Zukunft mehr: Wenn Baby Schimmerlos sie nicht mehr zur High Society macht, wie soll sie dann in der Form weiterexistieren?

 

Kir Royal (Deutschland 1986)
Regie: Helmut Dietl
Buch: Helmut Dietl, Patrick Süskind
Kamera: Ingo Hamer, Otto Kirchhoff, Petrus R. Schlömp
Musik: Konstantin Wecker
Darsteller: Franz Xaver Kroetz, Senta Berger, Dieter Hildebrandt, Ruth Maria Kubitschek, Billie Zöckler, Mario Adorf, Georg Marischka, Fritz Muliar, Erni Singerl, Michaela May, Corinna Drews, Udo Kier, Boy Gobert

Die Screenshots stammen von der DVD (C) 2010 Sony Music Entertainment Germany GmbH/Spassgesellschaft!.

Die Serie kann über Amazon auf DVD und BluRay bezogen werden. Wer über unsere Links shoppt (egal, was!), unterstützt den Dachboden.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

    Comments are closed.

    0 %