DramaRetrospektive

DIE REIFEPRÜFUNG: Hello Darkness, My Old Friend

Der folgende Rückblick auf Mike Nichols‘ vielzitierten Klassiker DIE REIFEPRÜFUNG (im Original: THE GRADUATE) stammt von meinem geschätzten Kollegen Gordon Gernand.


Ich möchte sehen, wie es aussieht, wenn ich nicht anschaue.“
(Karl Kraus)

He bought her a diamond for her throat
He put her in a ranch house on a hill
She could see the valley barbecues
From her window sill
See the blue pools in the squinting sun

(Joni Mitchell, „The Hissing of Summer Lawns“)

Es gibt so viele Mittel und Wege, auf DIE REIFEPRÜFUNG zu blicken und genau das zu sehen, was man zu sehen glaubt. Er funktioniert als Gesellschaftssatire oder Coming-of-Age-Komödie, als intergenerationale Auflehnungserzählung oder Emanzipationsstatement, das seine feministische Botschaft auf halber Strecke verrät. Vielleicht sogar, wenn man denn will, als Liebesgeschichte.

Doch manchmal, glaube ich, ist dieser Film vor allem eine Art nihilistisches Lustspiel, in dem es in Wirklichkeit um gar nichts geht. Und das auch im Nichts endet. Eine Studie über die Sinnlosigkeit, der man nicht entkommt, weil sich alles, wie der Bus in der berühmten Schlussszene, am Ende doch nur im Kreis bewegt. Weil man in Wahrheit niemals irgendwo ankommt.

Vieles an DIE REIFEPRÜFUNG, 1967 von Mike Nichols gedreht, war neu und gewagt. Seine Ästhetik, seine Geschichte, seine Attitüde. An so vielen Einstellungen kann man studieren, wie ein Film mit und durch Bilder erzählt. Die Geschichte ist bekannt: Musterschüler Benjamin Braddock (Dustin Hoffman) hat die Internatsschule fertig und weiß nicht, wie es in seinem Leben weitergehen soll. In einem heißen kalifornischen Sommer schlittert er in eine Affäre mit der älteren Mrs. Robinson (Anne Bancroft), einer engen Freundin der Familie. Doch dann verliebt er sich in deren junge Tochter Elaine (Katharine Ross). Die Affäre mit Mrs. Robinson fliegt auf, Elaine flieht zum Studium nach Berkeley. Doch Benjamin ist fest entschlossen, Elaine zu heiraten. Am Ende kommen beide tatsächlich zusammen.

Das junge Publikum feierte den Film als Kampfansage an die Elterngeneration und ihre Werte, die man vor allem an den Preisschildern der Inneneinrichtung ablesen konnte. Die Braddocks sind Teil einer Mittelschicht, die nach dem enormen Wirtschaftsaufschwung der letzten Jahrzehnte über mehr Einkommen denn je verfügt. Das Geld investierte man in Statussymbole. Und wenn die Nachbarn einen Swimming Pool bauen, dann wird halt auch ein Swimming Pool gebaut. Eine soziale Praktik, die den Cartoonisten Pop Momand zu der Comicstripreihe „Keeping Up with the Joneses“ inspirierte, die von 1913 bis 1940 in amerikanischen Zeitungen erschien. Der Titel wurde zum geflügelten Wort für eine Gesellschaft als Panoptikum, in der jeder den Wohlstand des anderen sieht und nicht als arme Sau ohne Swimming Pool enden möchte.

Es ist kein Zufall, dass am Anfang ein Geschäftsfreund der Familie – gibt es eigentlich noch andere Freunde als Geschäftsfreunde? – Benjamin den väterlichen Rat gibt, ins Plastikgewerbe einzusteigen: „Plastik gehört die Zukunft!“. Plastikmenschen in einer Plastikwelt.

Doch Gefühle und Triebe wollen irgendwann zu ihrem Recht. In diesem Film kämpfen ständig glänzende Oberflächen und blendende Fassaden mit dem Verdrängten und Verstohlenen, mit Sehnsüchten und Begierden. Das Haus der Robinsons ist ein Lifestyle-Herbarium, inklusive Minibar und in die Wand verbauter HiFi-Anlage. Eine Demonstration des guten, angesagten Geschmacks. Doch Mrs. Robinsons Minirock im Leopardenmuster, der Dschungel aus riesigen Pflanzengewächsen im Garten, all das zeigt: Hier klopfen Natur und Biologie an die Tür und wollen rein.

Oder die Musik. Die Songs von Simon & Garfunkel waren alle schon bekannt, doch die Zusammenstellung auf dem Soundtrack ergibt ihren eigenen Sinn. Auf der einen Seite der fast schon barocke Akustikfolk, in dem Paul Simon die besungenen Frauen nicht nur „girl“ oder „baby“, sondern „Liebste“ nennt. Auf der anderen Seite Dave Grusins Klangtapeten für Gesellschaftsanlässe, die er „Singleman Party Foxtrot“ oder „Sunporch Cha-Cha-Cha“ taufte. Im Jahrhundertsong „The Sound of Silence“ geht es laut Marc Eliots Simon-Biografie um die unabsichtliche Unfähigkeit der Menschen, miteinander zu reden, sich zu verstehen und sich aufrichtig und bedingungslos zu lieben. Kaum etwas könnte besser passen zu der Sprachlosigkeit, die zwischen Benjamin und seinen Eltern herrscht, die wir fast nie in vollem, körperlichem Umfang als identifizierbare Individuen erkennen können. Ständig verstellen Accessoires wie Hüte oder Sonnenbrillen oder aber die Kameraführung den Blick. Sie reden mehr über ihren Sohn als mit ihm, auch wenn er dabei ist. Und wenn sie es tun, wollen sie, dass er sich ihren Wünschen fügt. Fast nichts, was sie sagen, hat eine wahrhaftige, aufrichtige Substanz. (Im Song heißt es: „People talking without speaking / People hearing without listening“.)

Benjamin Braddock (Dustin Hoffman) auf dem Weg ins Erwachsenenleben.

In dieser falschen und unaufrichtigen Welt ist es im Grunde kein Wunder, dass sich mit Benjamin und Elaine zwei junge Menschen finden, die (noch?) nicht in diese Welt eingeebnet wurden und sich vorerst gegen sie verbünden („Du bist der erste Mensch, der mir nicht auf die Nerven geht“). Es war diese Auflehnung gegen die Erwachsenenwelt, die das revolutionäre Potenzial dieses Films begründete.

Auflehnung und Aufbegehren bedeuten, sich eigene Räume und Orte zu schaffen, um dort die eigenen Utopien zu leben. Mit Mrs. Robinson gelingt dies offensichtlich nicht. Die berühmte Montage, in der Nichols Szenen aus Benjamins Haus mit dem Hotelzimmer, in dem die beiden verkehren, verbindet und verschmelzen lässt, spricht eine deutliche Sprache. Benjamin zu Hause, gelangweilt mit Bier vor dem Fernseher. Benjamin im Hotelzimmer mit Mrs. Robinson, gelangweilt mit Bier vor dem Fernseher. Es ist nicht die Körpersprache eines jungen Burschen, dem gerade etwas verdammt Schönes oder Aufregendes widerfährt, sondern die der innerlich toten Erwachsenen, die gelernt haben, dass man Sehnsüchte am besten mit Alkohol absaufen lässt. Die Eltern sieht man wieder nur als Andeutung, Mrs. Robinson teilweise nur als Torso. Selbst das Interieur mit den weißen Lamellentüren findet sich hier wie dort. Am Ende fällt Benjamin im Bett auf sie drauf wie ein gefällter Baum, stumm liegen sie aufeinander. Der Sex zwischen den beiden muss eine absurd-reizlose Angelegenheit sein.

Dabei ist Mrs. Robinson, obwohl ihr das Drehbuch keinen Vornamen gestattet, der einzige Charakter mit einer erkennbaren (und traurigen) Vergangenheit, die einem vor Augen führt, wie sehr gesellschaftliche Konventionen damals ein Leben unter sich begraben konnten. Das Robinson-Anwesen, das begreift man irgendwann, ist nichts als eine modisch eingerichtete Grabkammer, in der die Träume einer Frau rettungslos verenden. Die Affäre ist ein verzweifelter Versuch, ein Stück Jugend, ein Stück Leidenschaft, oder was-auch-immer zurückzuholen.

Am berühmten Ende, wenn Benjamin die Zwangsverheiratung zwischen Elaine und einem älteren blonden Burschenschaftler verhindert, sich die Meute mit einem Kreuz vom Hals hält und beide im Bus entschwinden, fällt alles in sich zusammen. Die Kamera verharrt lange auf den beiden. Zu lange. (Eigentlich ein „happy little accident“, doch Nichols ließ ihn ganz bewusst so, wie er war.) Ihre Mienen gleichen sich einander an, das Siegerlächeln weicht einem unsicheren (bei ihr) oder völlig leeren Ausdruck (bei ihm). Vielleicht wird beiden in diesem Augenblick langsam klar, was die Entscheidung bedeutet, sich gegen die eigenen Eltern zu stellen, und wie endgültig man hier vielleicht eine Tür zugehauen hat. Aber es gibt vielleicht noch eine andere Ebene.

Je öfter ich diesen Film sehe, desto mehr glaube ich, wir sehen überhaupt keine „echten“ Menschen, nicht einmal im cineastischen Sinn. In dem Moment, in dem ein Film losgeht, beginnen ja auch die Figuren ihr vorgezeichnetes Leben. Hört der Film auf, hört auch ihr Leben, ihre Existenz auf. Aber nicht vorher. Für die Dauer einer Filmlänge leben sie. Spielfiguren, die man aufzieht und zwei Stunden lang tanzen lässt. Sie existieren so lange, wie wir hinsehen.

Bei DIE REIFEPRÜFUNG bleiben die Spielfiguren schon mittendrin für einige Sekunden stehen. Funktionieren nicht wie vorgesehen. Deshalb verzieht Benjamin bei Elaines nächtlichem Besuch, bei dem sie das Fenster für das Thema „Heirat“ doch wieder einen Spalt öffnet, keine Miene, sondern trottet einfach ins Bett zurück. Deshalb sitzen beide am Schluss wie betäubt im Bus und stieren ins Leere. Die Spielfiguren haben aufgehört zu tanzen, noch bevor wir den Blick von ihnen nehmen können. Und das in einem Film, wo im Grunde jeder Charakter nichts anderes ist als ein Pappaufsteller in einer Sozialsatire. Wir sehen wirklich, wie es aussieht, wenn man „nicht hinschaut“.

Oder aber, noch schlimmer, wir sehen vielleicht schon das, was offensichtlich ist: ein junges altes Paar, das sich bereits zu langweilen beginnt, keine zwei Minuten, nachdem sie eben noch rebellierten. Keine Liebe, nur Leere. Schon einige Szenen vorher sind die Bilder (mal wieder) schneller und ehrlicher als die Handlung. Benjamin möchte Elaine vom Heiraten überzeugen, doch die Räume und Symmetrien engen und kerkern die beiden bereits ein, noch bevor sie „Ja, ich will!“ sagen können. Gefangen im Möbiusband der Ehe. Wie beim Busfahren. Irgendwann ist zwar Endstation, doch dann fährt man dieselbe Strecke zurück. Und dann wieder zurück, und dann wieder, und wieder, und wieder.

Hello darkness, my old friend.

 

Die Reifeprüfung (USA 1967)
Originaltitel: The Graduate
Regie: Mike Nichols
Buch: Calder Willingham & Buck Henry, nach dem Roman von Charles Webb
Kamera: Robert Surtees
Schnitt: Sam O’Steen
Darsteller: Anne Bancroft, Dustin Hoffman, Katharine Ross, William Daniels, Murray Hamilton, Elizabeth Wilson, Buck Henry

Die Screenshots stammen von der Blu-Ray (C) 2019 Studiocanal GmbH.

Gordon Gernand
Zog in jungen Jahren aus Duisburg nach Berlin, um ein bisschen was zu erleben. Erlebte dort die vermutlich letzte Phase, in der das Wohnen in der Hauptstadt noch keine finanziellen Alpträume bereitete. Studierte an der Freien Universität Berlin Linguistik, Sozialwissenschaft und Psychologie. Fing in der Studentenzeit das Schreiben an, unter anderem beim seligen Magazin "uncle sally’s". Gewann einen Preis als politischer Redenschreiber, schmiss ihn beim nächstbesten Umzug in den Abfall. Quälte sich durch die faszinierend-prekäre Existenz des Freiberuflerdaseins, um nun in heimischen Gefilden für den Staat und seinen Bildungsauftrag zu arbeiten. Schreibt immer noch gerne, wenn es die Zeit erlaubt.

    Comments are closed.

    0 %