Ein vielversprechendes Point’n’Click-Adventure: Der Tod des Großvaters bringt die Journalismusstudentin Kathy Rain auf die Geheimnisse ihrer Heimatstadt. Im folgenden Gastbeitrag berichtet unser hochgeschätzter Autor Don Arrigone von den Vorbildern des Spiels und seiner Retrogaming-Nostalgie.
Eine stürmische Nacht. Der Regen prasselt gegen das Fenster. Eine junge Frau sitzt in einem gemütlichen Couchsessel, neben ihr noch dampfender, vermutlich verdammt guter Kaffee. Etwas lustlos zappt sie durch das nächtliche Programm und kommentiert dies sarkastisch: PULP FICTION, Kinder, die alle in dieses neumorderne Internet wollen, Bill Clinton und FULL THROTTLE. Der Debüt-Trailer zu KATHY RAIN löste in mir drei Gefühle aus: Die Protagonistin könnte spannend sein, die Atmosphäre angenehm gruselig und die 90er-Jahre-Nostalgie überbordend. Zwei der Annahmen erwiesen sich als richtig.
KATHY RAIN beginnt damit, dass unsere gleichnamige Protagonistin sich 1995 auf den Weg zum Begräbnis ihres Großvaters macht, in ein kleines, ländliches Kaff namens Conwell Springs. Der Großvater starb wenig geheimnisvoll an Altersschwäche, aber saß seit einem umso mysteriöseren Vorfall vor 14 Jahren im Rollstuhl. Er litt unter schweren psychischen Beeinträchtigungen und war nicht fähig, jemals zu berichten, was in jener dunklen Nacht im Jahr 1981, die für immer sein Leben veränderte, geschah. Zeit für unsere Heldin, das Geheimnis ihres Großvaters zu lüften, das, wenig überraschend, auch der Schatten ist, der über der ganzen Kleinstadt zu liegen scheint. Und auch Kathys höchst eigene innere Dämonen und die Erinnerungen an ihre unglückliche Kindheit begleiten sie und uns ab der ersten Sekunde des Abenteuers, das mit rund 5 bis 8 Stunden Spielzeit ebenso kurz wie kurzweilig ist.
Die psychologische Aufarbeitung all der Traumata erfolgt natürlich nicht, indem sich Kathy auf eine Couch legt und mit einem Therapeuten diskutiert, was in ihrer Erinnerung als Phallus gelesen werden kann. Vielmehr lösen wir in klassischer Point-and-Click-Manier verschiedene Rätsel in der äußeren Welt, um auch mehr über die innere zu erfahren. Besagte Rätsel sind meist nachvollziehbar – bis auf die verdammte Kassette, die ich am zweiten Tag mit einem Scanner digitalisieren musste?! – , größtenteils aber Hausmannskost, die auch 1995 schon nicht mehr für Aufsehen gesorgt hätten. Einzig die Spielereien auf Kathys Computer, bei denen man beispielsweise die Nachricht auf einem Tonband neu schneidet (nachdem man es mit dem Scanner digitalisiert hat … mit dem gottverdammten Scanner!), um dann eine besonders misstrauische Dame zu täuschen, wirken innovativ.
Die Atmosphäre des Spiels ist nicht zwingend eine Innovation, aber zumindest eine wohltuende Abwechslung. Der Bezugspunkt ist nämlich nicht, wie es eine ganze Weile scheint, die klassische Gothic-Erzählung, sondern das Schaffen von David Lynch, insbesondere seine Serie TWIN PEAKS. An diese gemahnen Lokalitäten wie das Haus am See, das Vorstellungen von Ruhe und Abgeschiedenheit mit dunklen Geheimnissen der Vergangenheit und Einsamkeit verbindet und geradezu eine tiefenpsychologische Interpretation herausfordert. Der Antagonist des Spieles, der geheimnisvolle, glatzköpfige Geschäftsmann im roten Anzug, der immer wieder in Kathys Träumen auftaucht, könnte direkt einem Werk von Lynch entnommen sein.
Der Schöpfer von KATHY RAIN, Joel Hästo, verweist selbst darauf, dass ihm die Atmosphäre von TWIN PEAKS als Vorlage diente, und insofern kann ich ihn selbst dafür verantwortlich machen, dass er sich mit diesem Vergleich die Latte ganz schön hoch gelegt hat. An die herrlich bizarren Charaktere, die Lynch in seiner Serie und in seinen Filmen geschaffen hat, reicht KATHY RAIN nämlich leider nicht im Geringsten heran. Außer der Hauptfigur sind alle Charaktere flach und dienen mehr dem Spielprinzip als der Handlung; gerade ihre Großmutter sitzt Tag und Nacht teetrinkend auf der Couch und wartet nur darauf, einen entscheidenden Hinweis zu geben, während sie dafür todesmutig eine Thrombose riskiert. Besonders augenscheinlich wird dies, als man an einem der dramatischen Höhepunkte des Spieles einen anderen Charakter retten muss und mehr oder minder froh ist, sich an den Namen der Figur zu erinnern.
Kathy selbst ist hingegen glücklicherweise ein runder Charakter. Zwar beginnt sie als recht stereotype Rebellin, gewinnt aber schnell an Tiefe. Ihre Charakterentwicklung trägt das Spiel spätestens in der zweiten Hälfte, stärker noch als das Geheimnis um Conwell Springs und den Mann in Rot. Wermutstropfen ist lediglich, dass insbesondere die Geschehnisse zum Spielende hin eine ebenso eindeutige wie einfache laienpsychoanalytische Leseart nahelegen und damit hinter der Mehrdeutigkeit des Vorbilds TWIN PEAKS zurückbleiben, aber da misst man sich immerhin schon wirklich mit anerkannten Größen.
Damit bleibt vom Anfang des Textes nur noch meine Befürchtung überzogener Nostalgie an die 90er-Jahre. Diese Angst hat sich glücklicherweise nicht bewahrheitet. Die Pixelgrafik und der minimalistische, aber eingängige Soundtrack versprühen zwar Retro-Charme, die Referenzen halten sich allerdings in Grenzen und ergeben im Rahmen der Handlung Sinn. Die 90er-Jahre dienen als ganz normales Setting, ohne dass man versucht, über mögliche Erinnerungen der Spieler zwanghaft zu punkten und das Spiel über Hipster-Nostalgie zu bewerben.
Der Untertitel von KATHY RAIN lautet „A Detective is born“. Da hegt man gewisse Hoffnungen auf einen zweiten Teil. Mit besseren, bizarreren Charakteren und einer surrealeren Stimmung wäre ich sofort wieder mit an Bord. Bis dahin wurde mit dem Erstlingswerk ein solides Fundament geschaffen.
Die Screenshots stammen von der Website mobygames.com.