EventRetrospektive

Theater im Kino: Ein Streifzug durch die Filme von Max Reinhardts Festspiel-Ensemble

Ein wunderbares Festival begleitete die Salzburger Festspiele diesen Sommer im lokalen Das Kino. „Theater im Kino“ nannte sich die vierwöchige Reihe, der Untertitel erklärt: „Ein Streifzug durch den Filmkosmos Max Reinhardts sowie der Familie seiner Ehefrau Helene Thimig“.

2020, zum 100. Jubiläum der Salzburger Festspiele, wurden die Kino-Regiearbeiten des einflussreichen Theatermachers Max Reinhardts gezeigt – was im Corona-Sommer leider ein wenig unterging. Die Reihe 2021 ist gewissermaßen eine Fortsetzung: Hier standen die Schauspieler Reinhardts im Fokus, von großen Stars des frühen Kinos wie Werner Krauß, Attila Hörbiger oder Heinrich George über vielbeschäftigte Charaktergesichter wie Oskar Homolka hin zu heutzutage eher unbekannten Darstellern wie Frida Richard oder Friedrich Kayßler. Die Auswahl orientierte sich an den Schauspielern der JEDERMANN-Aufführungen aus den Jahren 1920 bis 1937: Krauß beispielsweise spielte 1920 und 1921 den Tod, Hörbiger von 1935 bis 1937 den Jedermann, George war 1920 als Mammon zu sehen, Homolka in derselben Rolle 1926. In einer Nebenschiene wurde ein Blick auf das Filmschaffen der Thimigs geworfen – der Familie um Reinhardts Frau Helene Thimig, ihren Vater Hugo und ihre Brüder Hermann und Hans Thimig.

Theatermacher Max Reinhardt und seine Ehefrau Helene Thimig um 1930 vor Schloss Leopoldskron.

Die ersten beiden Wochen waren Stummfilmen aus den Jahren 1913 bis 1927 gewidmet. Da sah man beispielsweise den 1921 veröffentlichten SCHERBEN, inszeniert von Lupu Pick und geschrieben von Carl Mayer. Das frühe Beispiel eines Kammerspiels ist umso bemerkenswerter, nachdem solche auf engem Raum erzählten Dramen später meist dialoglastig ausfallen, das Kino zur damaligen Zeit aber ja eben noch stumm bleiben muss – und hier tatsächlich auch beinahe ohne Zwischentitel auskommt. Die streng fokussierte Geschichte erzählt, wie die Familie eines Bahnwärters (wunderbar gebrochen: Werner Krauß) auseinanderbricht, als ein Inspektor (stechender Blick: Paul Otto) sich im Hause einquartiert und die Tochter verführt. Der trostlose Weg ins Unglück (man fühlt sich vage an Gerhard Hauptmanns 1888 erschienene Novelle BAHNWÄRTER THIEL erinnert) wurde, wie alle Filme der ersten Woche, gekonnt von der niederländischen Pianisten Maud Nelissen begleitet, die die richtigen Stimmungen fand und dabei doch das Plakative ganz vermied.

Highlight der zweiten Woche war Gerhard Lamprechts DIE VERRUFENEN, ein bewegendes Drama um einen Mann, der nach abgesessener Gefängnisstrafe mühsam versucht, wieder Fuß in der Gesellschaft zu fassen. Unter Lamprechts sachlicher, unsentimentaler Regie wird das zu einer packenden Milieustudie: ein Blick auf eine Bevölkerungsschicht, die nur allzu gerne vergessen und ignoriert wird, erzählt mit Menschlichkeit, aber ohne Sozialkitsch. Vor allem Bernhard Goetzke in der Hauptrolle ist beeindruckend mit seinem zurückhaltenden, aber in den Blicken umso intensiveren Spiel.

Werner Krauß in Lupu Picks SCHERBEN (1921).

Die musikalische Begleitung der zweiten Woche war moderner gehalten: Die Musikerin Shilla Strelka aus Wien (die als DJ unter dem Namen Inou Ki Endo auftritt) versorgte die Filme mit elektronischen Sounds zwischen pulsierenden Synth-Mustern, Störgeräuschen und Ambient-Stimmungen. Zum nüchtern inszenierten DIE VERRUFENEN passten ihre kühlen Klänge, aber für Friedrich Wilhelm Murnaus DER GANG IN DIE NACHT beispielsweise waren ihre Experimente viel zu präsent und verdrängten den Film. Dabei war die Musik an sich spannend, aber in sich schon so bildstark, dass sie in Konkurrenzkampf mit dem Film ging. Besser funktionierte die Untermalung wiederum bei Georg Wilhelm Pabsts GEHEIMNISSE EINER SEELE, dem das Unwirkliche und Dräuliche der künstlichen Töne besser stand – immerhin verhandelt ja auch die Geschichte, die versucht, Freuds Theorien zu einer Reise ins Innere der Psyche zu verbildlichen, das mitunter nicht greifbare Unbekannte. (Nebenbei angemerkt: Pabsts Versuch, die Psychoanalyse filmisch umzusetzen, ist als Zeitdokument und als Kinoerzählung spannend – aber gerne auch naiv, so dass die Auflösung des Traumas des Protagonisten mehr wie eine Parodie wirkt. Sagen wir es so: Man versteht, warum Sigmund Freud selber eher unbeeindruckt war.)

In den folgenden zwei Wochen wurden Tonfilme aus den Jahren 1930 bis 1937 gezeigt, und auch da waren Schätze zu entdecken. Bemerkenswert war Richard Oswalds 1914, DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND, eine detaillierte Nacherzählung, wie die politischen Verwicklungen zwischen dem Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand und jenem auf den sozialistischen Politiker Jean Jaurès 1914 innerhalb weniger Wochen zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten. Heute würde man Oswalds Film wohl ein Dokudrama nennen, weil der Fokus ganz auf der präzisen Dramatisierung tatsächlicher Ereignisse liegt, die ohne Effekthascherei oder künstliche Spannungsmache auskommt: Da sieht man hauptsächlich historische Figuren miteinander reden und verhandeln. (Im Kern erinnert das beispielsweise an Roger Donaldsons Kubakrisen-Drama THIRTEEN DAYS aus dem Jahr 2000, das sich ebenso auf authentische politische Diskussionen konzentriert.) Für den Zuseher 91 Jahre später ist dabei nicht immer klar, was es mit welcher Person auf sich hat – für den Zeitgenossen waren sie eindeutig, uns Spätgeborenen hilft eine vorige Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der Zeit. Aber doch bleibt Oswald in dem, was er zeigt, ganz klar: Wie in einer griechischen Tragödie müssen die Ereignisse zwangsläufig auf den Krieg hinauslaufen, der, wie man hier so eindringlich sieht, von einer Vielzahl der handelnden Personen auch tatsächlich gewünscht bzw. als notwendig angesehen wurde.

Hirngespinste in Georg Wilhelm Pabsts Freud-Drama GEHEIMNISSE EINER SEELE (1926).

Spannung ganz anderer Art bot der wunderbare Krimi UNSICHTBARE GEGNER – beziehungsweise ÖL INS FEUER, wie der Film auch heißt. Das ist eine Noir-Geschichten um die Machenschaften rund um den Verkauf einer Ölfirma, bei der Lug und Trug bald auch zu Mord führen. Das Intrigenspiel zieht sich mit seinen zahlreichen Wendungen zu einer packend dichten Story zusammen, in der vor allem Oskar Homolka und Peter Lorre als Schurken glänzen dürfen – vor allem Homolka gehört die Leinwand, schon alleine wegen seiner leisen letzten Szene.

An den Wochenenden der letzten zwei Wochen kam die Thimig-Nebenreihe ins Spiel: Zunächst wurden Filme zwischen 1930 und 1935 gezeigt, in denen die Thimigs zu sehen waren; danach kam eine kleine Retrospektive des Regisseurs Hans Thimig mit vier Filmen zwischen 1942 und 1948 (bei denen in drei von vier Fällen auch Hermann Thimig als Schauspieler dabei war). Sehr vergnüglich war da Georg Jacobys Gesellschaftskomödie GELD AUF DER STRASSE von 1930, der anderweitig gar nicht verfügbar ist und hier in einer Flickwerk-Kopie mit holpriger Qualität für historischen Charme sorgte. Schön, dass der Streifen hier vor der Vergessenheit bewahrt wurde: Das Lustspiel um eine ebenso arrangierte wie unliebsame Hochzeit, diverse Verwechslungen und das Auf und Ab zwischen Glück und Unglück punktet mit immensem Charme und viel Wortwitz („Mir liegt der Name auf der Zunge!“ – „Na, dann nehmen Sie ihn doch heraus“). Und wenn unser Protagonist, ein wunderbar verschmitzter Georg Alexander, als Lebenskünstler erst alles zu gewinnen und dann alles zu verlieren droht und mit leisem Schmunzeln anmerkt, dass ihn auch das nicht umhauen wird, dann schwingt da auch eine schöne Lebensweisheit mit.

Die Brüder Hans und Hermann, Schwester Helene und Vater Hugo Thimig (v.l.) vor Schloss Leopoldskron.

Ebenfalls in der Thimig-Reihe waren die beiden Heimkehrer-Dramen DIE GROSSE LIEBE (1931, von Otto Preminger) und MENSCH OHNE NAMEN (1932, von Gustav Ucicky, der wenig später zu einem der führenden NS-Regisseure werden sollte). Im einen glaubt eine Mutter, in einem armen Schlucker ihren im Krieg verlorenen gegangenen Sohn entdeckt zu haben, im anderen behauptet ein aus Russland zurückgekehrter Kriegsveteran, dass er ein für tot gehaltener Industrieller ist und ihm dessen Firma zustehe. Beide erzählen interessante Konstellationen und werfen spannende Fragen um Identitäten und Beziehungen auf – wobei in Premingers Fall von Beginn an klar ist, dass der Mann nicht der Sohn ist, während in Ucickys Film die Frage bis zum Schluss offen bleibt, ob der Mann nicht vielleicht doch die Wahrheit sagt.

Kuratiert wurde die gesamte Reihe von Filmkritiker Olaf Möller, der an der Aalto University in Helsinki Filmwissenschaften unterrichtet. Vor jedem Film gab er eine informative und lebendige Einleitung, die dabei half, die Filme, ihre Entstehung und die Personen dazu richtig einzuordnen. Selbst, als Möller für zwei Tage wegen seiner Impfung ausfiel (für die er nach Helsinki fliegen musste!), führte er beständig durch das Programm – per Videobotschaft vor dem Film. Und weil wir uns angewöhnten, uns vor und nach den Filmen ausgiebig auszutauschen, bahnte sich da prompt ein kleines Projekt an, von dem man auf dieser Seite schon bald etwas hören wird.

Natürlich bot das Programm noch andere interessante Stücke, die sich zeitlich nicht ausgingen – Robert Reinerts Stummfilmdrama OPIUM in der ersten Woche zum Beispiel war sicher lohnenswert, ebenso wie Kurt Gerrons Komödie BRETTER, DIE DIE WELT BEDEUTEN. Und natürlich zündete nicht jeder Film, wie es eben in der Natur einer solchen Retrospektive liegt. Tatsächlich war der Aufhänger um Max Reinhardt und Helene Thimig auch nur ein loses Netz, das für die einzelnen Filme gar nicht viel Bedeutung hatte: Man sah vielleicht, wie vielfältig die Schauspieler aus Reinhardts Ensemble waren, aber letztlich bot die Klammer einfach nur die willkommene Gelegenheit, einen Streifzug durch das frühe deutsche und österreichische Kino in all seinen Ausprägungen zu unternehmen. Eine Fortsetzung wäre unbedingt wünschenswert.

 

Die Bilder sind dem Begleitbooklet der Retrospektive entnommen.
Fotos der Thimigs und von Reinhardt: KHM-Museumsverband, Theatermuseum Wien. Filmstills: Filmarchiv Austria.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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