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KNISTERN DER ZEIT: Das afrikanische Operndorf von Christoph Schlingensief. Ein Gespräch mit Kunstwissenschaftler Marcel Bleuler

Über zehn Jahre ist es nun her, dass der deutsche Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief an den Folgen seiner Krebserkrankung verstarb. Im Dokumentarfilm KNISTERN DER ZEIT von Sibylle Dahrendorf (2012) wird die Entstehung seines nahezu utopisch anmutenden Projekts Operndorf Afrika in Burkina Faso bis zur Eröffnung der Schule im Oktober 2011 begleitet. Unsere Gastautorin Claudia Maria Kraml blickt hinter die Kulissen des ambitionierten Vorhabens und geht im Interview mit Kunstwissenschaftler Marcel Bleuler der Frage auf den Grund, wie es heute um das Projekt steht.


Ein Deutscher macht sich 2009 ins damals ärmste Land der Welt auf – in der festen Überzeugung, etwas Einzigartiges zu erschaffen: ein Operndorf, in dem Einheimische in ihrem Alltagsleben in Kontakt mit Kunst und Kultur kommen, und das zugleich einen Ort der Begegnung zwischen westlichen Menschen und der Lokalbevölkerung darstellt. Nicht etwa die Initiative von Entwicklungshelfern, sondern eine künstlerische Vision ist es also, die das Projekt in Burkina Faso von Beginn an antreibt, und genau dieser Aspekt macht es zu einem in dieser Form – zumindest in der Realität – noch nie dagewesenen Vorhaben.

„Guten Abend, meine Damen und Herren! Ich begrüße Sie ganz recht herzlich hier aus Ouagadougou… Vielleicht sehen Sie jetzt auch nix, kann sein…“ Der Film beginnt mit einem verwackelten Handyvideo, und genau ein solches ist wohl auch das treffendste Medium, um Schlingensiefs kreative, quirlige, stets zur Improvisation bereite Persönlichkeit einzufangen. Wo andere die Notwendigkeit erkennen, zunächst langwierige Diskurse zu führen und sich jeden Schritt genau zu überlegen, stürzt er sich mit dem Spatenstich für das Projekt in eine großteils noch ungewisse Zukunft. Es gibt ein Konzept, einen groben Plan und nicht zuletzt seine Vorstellung, in absehbarer Zeit die Darbietung eines Sängers im Festspielhaus mit dem Schrei eines Babys auf der Krankenstation zu vereinen – doch von Anfang an offenbaren sich auch immer wieder Hürden.

Womit Schlingensief bzw. später sein Team unter der Leitung seiner Witwe Aino Laberenz auf dem Weg zur Realisierung des „Operndorfs“ zu kämpfen haben, wird in Dahrendorfs Produktion eindrücklich, doch niemals plakativ oder gar um Mitleid heischend dargestellt. Die Schwierigkeiten bei der Suche nach einer passenden Stätte, die Selbstzweifel des Künstlers wie auch die Kritik, die ihn immer wieder an einen Abbruch denken ließ, werden thematisiert, ohne jedoch zu dramatischen Wendungen in der Geschichte des Projekts auszuarten. Eine der Besonderheiten des Dokumentarfilms liegt nämlich in der Art und Weise, wie seine Inhalte präsentiert werden: Im Unterschied zu vielen anderen Vertretern dieses Genres gibt es hier keine Stimme aus dem Off, die das Geschehen kommentiert, sondern es handelt sich vielmehr um eine Aneinanderreihung von oftmals amateurhaft gedrehten Szenen. Spricht jemand von den beteiligten Personen – wie etwa ortsansässige Stammesmitglieder, der Architekt Francis Keré oder Schlingensief selbst –, dann wird ihren Aussagen keine Fragestellung vonseiten einer interviewenden Person vorangestellt. Es wirkt eher, als würden sie bloß laut vor sich hin sinnieren – ein Aspekt, der dem Zuschauer das Gefühl vermittelt, Zeuge von zum Teil sehr intimen Momenten zu werden, in denen sich die betreffenden Akteure von ihrer verletzlichen Seite zeigen.

Aino Laberenz (1. v. l.), Francis Keré (3. v. l.) und Christoph Schlingensief (sitzend) bei der Unterzeichnung des Vertrags für die Grundsteinlegung des Operndorfs

Stück für Stück erfährt so auch das bisher in Sachen Entwicklungshilfe völlig unbedarfte Publikum, worum es in Schlingensiefs Vision geht: Nicht als eine Art Missionar sah er sich, der den Einheimischen westliche Denk- und Lebensweisen vermittelt, sondern er wollte ihnen Ressourcen für kulturelle Produktion bereitstellen und einen Ort für Begegnung schaffen. Einen Ort, an dem sich Kunst und Alltagsleben sowie verschiedene Perspektiven – etwa jene von deutschen Kulturschaffenden und Burkinabe – überschneiden können. Dabei war unter anderem die Zusammenarbeit mit dem aus Burkina Faso stammenden und in München lebenden Architekten Keré entscheidend: Der älteste Sohn eines lokalen Häuptlings ließ das gesamte Dorf in einer besonders nachhaltigen Technik erbauen, in der zudem die lokalen Menschen unterrichtet wurden, um künftig ihre eigenen Häuser ähnlich konstruieren zu können. Parallel dazu sollten die Leute auch ganz ohne künstlerische Ausbildung an den hier geplanten einschlägigen Aktivitäten teilhaben können.

Frei von jeglicher Sentimentalität und dennoch auf sehr berührende Weise wird das Verhältnis zwischen Schlingensief und Keré gezeichnet. Der Architekt ist von Beginn an an seiner Seite, wenn sich Fragen zur konkreten Durchführung seines ehrgeizigen Projekts stellen, und wirkt neben dem exzentrischen Künstler gelegentlich wie ein ausgleichender, vom Vernunftprinzip geleiteter Ruhepol. Er ist zudem der Einzige, der sowohl Deutsch, die Amtssprache Französisch als auch den lokalen Dialekt beherrscht, und wird so zum Sprachrohr zwischen den Dorfbewohnern und Schlingensief, wenn selbst dessen temperamentvolle Gestik und Mimik an ihre Grenzen stoßen. In zahlreichen Video-Mitschnitten ist zu beobachten, wie fruchtbar sich die Zusammenarbeit der beiden gestaltet. So gelingt es auch rasch, eines der anfänglichen Probleme zu lösen, als die Arbeit am „Operndorf Afrika“ erst einmal anläuft: Die Motivation der daran Beteiligten scheint meist erst mit der Ankündigung von Schlingensiefs Besuch aus Deutschland wieder merklich zu steigen. Doch sein Enthusiasmus und die ruhige, aber bestimmte Vermittlung des Architekten bewirken schließlich, dass der Funke auch auf die vor Ort Beschäftigten überspringt.

Davon, dass den Künstler diverse interne oder von außen kommende Schwierigkeiten bei der Realisierung seines Projekts bremsen würden, ist im Film allgemein wenig zu bemerken. Seine tatkräftige Energie wirkt allgegenwärtig: wenn er einem kleinen afrikanischen Jungen eindringlich Instruktionen gibt, seine noch imaginäre zukünftige Schule vor der Kamera zu präsentieren, ebenso wie beim Umherwirbeln auf der Grasfläche, wo einst die verschiedenen Komponenten des Dorfs stehen sollen.

Aino Laberenz und ein lokaler Mitarbeiter des ‚Operndorf‘-Projekts im Gespräch mit den einheimischen Familien Sidibé und Diallo

Angesichts der Wortmeldungen anderer Personen kristallisiert sich allerdings im Verlauf des Films zunehmend heraus, dass die Unternehmung nicht lange unumstritten bleibt. „Operndorf Afrika“ – das klingt an sich immerhin nicht gerade nach einem Projekt, das sonderlich große Rücksicht auf die Eigenheiten der einheimischen Kultur nehmen würde, sondern erweckt eher den Eindruck, als wolle man den dortigen Import der deutschen Oper forcieren. Vor dem Hintergrund, dass zahlreiche afrikanische Länder auf eine lange Kolonialgeschichte zurückblicken, ergibt dies eine umso größere Problematik: Wie soll man aus westlicher Sicht mit den Gräueltaten der eigenen Vorfahren auf diesem Boden umgehen? Wie können Beziehungen zwischen Europa und Afrika trotz des in vielerlei Hinsicht bis heute andauernden Ungleichgewichts neu gedacht werden? Genau diese Fragen wurden in der Kunstforschung um die Zeit der Projektgründung vermehrt gestellt, und Schlingensief fand seinen ganz eigenen Weg, eine publikumswirksame Antwort darauf zu geben. Er versuchte nicht, an derartigen Differenzen irgendetwas zu beschönigen, und stürzte sich dennoch ins Geschehen, ohne sich durch potenzielle Gebote politischer Korrektheit einschränken zu lassen.

Nach einer Wertung, ob diese Vorgangsweise für einen Mitteleuropäer auch tatsächlich vertretbar ist, sucht man in KNISTERN DER ZEIT vergeblich. Es wird viel authentisches Filmmaterial gezeigt, wobei man allerdings stets den Eindruck hat, als würden kommentarlos die Videos eines Handy- oder Kameraarchivs abgespult werden. Ebensowenig, wie ein Sprecher durch die ca. zwei Jahre umfassende „Handlung“ führt, finden sich in der Dokumentation Hinweise auf eine präferierte Deutung der Geschehnisse. Hier sind die Menschen vor dem Bildschirm gefordert, selbst über das Gesehene zu reflektieren und sich ihre eigene Meinung zu bilden. Dahrendorfs Produktion bringt keine Debatten um den Umgang mit dem Erbe der Kolonialisierung zur Sprache, sie kann nur deren Ausgangspunkt bilden. Es hat den Anschein, als würde man rein zufällig Beratungen innerhalb von Schlingensiefs Team mitverfolgen, ihren Leiter bei der Begehung des Baulandes begleiten oder ortsansässige Stammesmitglieder unter nur wenig Schatten spendenden Bäumen über die Veränderung ihrer gewohnten Umgebung sprechen hören. Das alles passiert ohne jegliche weitere Erklärungen oder stimmungsvolle Untertöne – und solcher Elemente bedarf es eigentlich auch gar nicht, denn das „Knistern der Zeit“ ist weit über die Grenzen von Afrika hinaus zu spüren.

Eines wird im Film allerdings immer wieder verdeutlicht: Bei allem Tatendrang war Schlingensief sehr wohl bewusst, dass er unter enormem Zeitdruck stand. Anfang 2008 wurde bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert; auch nach der Entfernung eines Lungenflügels besserte sich sein gesundheitlicher Zustand kaum. Bei der Uraufführung seines Theaterstücks VIA INTOLLERANZA II (Mai 2010), in dem das Verhältnis Afrikas zu Europa thematisiert wird, ist er bereits stark von seiner Krankheit gezeichnet und bricht auf der Bühne zusammen. Um ein – obgleich nur aufs Physische projiziertes – Leiden geht es auch in der Darbietung selbst: Eine Sängerin aus Burkina Faso erkrankt an „Europa“, es tut ihr nicht gut, sich in diesem Umfeld aufzuhalten. Aus deutsch-französisch-afrikanischem Sprachenwirrwarr entsteht eine Art Publikumsbeschimpfung, die jedem Wunsch nach kultureller Harmonie und Versöhnung spottet.

Wenige Monate später erliegt der Initiator des Projekts seinem eigenen Leiden. Doch schon kurz nach der Todesnachricht findet Francis Keré wieder Worte, die Hoffnung machen: „Christoph ist nicht mehr da, aber die Reise geht weiter. Sein Projekt geht weiter. Er hat eine Vision gehabt, die uns zusammengebracht hat und die uns nie wieder loslässt.“ Und trotz aller Sachlichkeit der Darstellung lässt sich die eigene Betroffenheit an dieser Stelle dann doch nicht mehr leugnen.

 

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Wie sieht es nun heute, elf Jahre nach dem Spatenstich, im Operndorf aus? Marcel Bleuler, stellvertretender Leiter des Programmbereichs „Vermittlung zeitgenössischer Kunst“ am Schwerpunkt „Wissenschaft und Kunst“ der Universität Salzburg, war 2016 selbst vor Ort und kann daher aus erster Hand berichten.

Im Herbst 2011 wurde die Schule eröffnet, drei Jahre später kam auch die geplante Krankenstation dazu – von der Oper bzw. dem ursprünglich als „Festspielhaus“ bezeichneten Gebäude ist allerdings noch immer weit und breit nichts zu sehen. Angesichts der Tatsache, dass ausgerechnet der titelgebende Teil des Vorhabens nach wie vor nicht existiert, drängt sich durchaus die Frage auf, worin nun eigentlich sein Mehrwert im Vergleich zu Entwicklungsinitiativen ohne künstlerischen Anspruch besteht.

„Das ist in der Tat eine berechtigte Frage, der ich auch immer wieder auszuweichen versuche“, lacht Bleuler. „Im Laufe der Zeit hat sich das Projekt von der künstlerischen Vision stark in eine soziale Richtung entwickelt. Dennoch hebt sich das Dorf von anderweitigen Entwicklungsinitiativen bis heute zum einen dadurch ab, dass bei einer solchen noch nie derart großer Wert auf Ästhetik gelegt wurde. Gerade die Architektur der Krankenstation hat mich sehr beeindruckt. Auch die Kinder, die die Schule im Dorf besuchen, kommen mit einer etwas anderen Art von Bildung in Kontakt als Gleichaltrige an anderen Orten: Künstlerischen Tätigkeiten wie etwa Singen, Zeichnen und Theaterspielen wird hier hohe Bedeutung beigemessen; in den Sommerferien können sie zusätzlich das Angebot von Videokursen nützen.“ Dies schlägt sich u.a. darin nieder, dass sie einen – im Grunde genuin westlich geprägten – Kunstbegriff kennen, während für die lokale Bevölkerung Kultur und Rituale sehr wohl eine große Rolle spielen, jedoch nicht in derselben Form und unter dieser Bezeichnung.

Kunstwissenschaftler Marcel Bleuler

Gewöhnungsbedürftig erschien dem Kulturwissenschaftler zunächst die Tatsache, dass der nach wie vor unbebaute Platz, auf dem eigentlich das „Opernhaus“ stehen sollte, für die sich dort aufhaltenden Personen in jedem Augenblick vollkommene Exponiertheit bedeutet. „Es kann anstrengend werden, wenn für andere permanent sichtbar ist, was sich dort abspielt, und man sich nicht einfach mal zurückziehen und selbst beobachten kann.“ Auf die Frage, ob sich in den nächsten zehn Jahren etwas am unangetasteten Zustand der designierten Festspielstätte ändern könnte, muss Bleuler schmunzeln. Es sei zu bezweifeln, ob dies überhaupt im Zentrum der Überlegungen stehe – zunächst einmal hätten jedenfalls der Ausbau der Schule sowie das Residency-Projekt Priorität. „Dabei werden jährlich während einer kurzen Zeit von ca. zwei Monaten von immer anderen Künstler*innen Vorhaben realisiert, die danach wieder verschwinden. Ich glaube, dass diese Spur eigentlich interessanter ist: Wie gestalten unterschiedliche Künstler*innen diese freie Fläche? Wer kann sich was vorstellen?“ Nicht die tatsächliche Existenz eines Opernhauses, sondern das Finden einer immer wieder neuen hypothetischen Antwort auf diese Fragen macht Bleuler zufolge den Reiz an der Spielstätte aus. Zugegeben, das ergibt Sinn: Unter diesem Gesichtspunkt wäre es geradezu schade, wenn diese eines Tages in einer endgültigen, unverrückbaren Version vorhanden wäre.

Dieses Konzept des dynamischen Kunstwerks passt zu jener Philosophie, die Schlingensief zu Lebzeiten hinter seinen Aktionen erkennen ließ: Kunst sollte zu etwas Angreifbarem gemacht werden, das für alltägliche Menschen wie auch Situationen offensteht. So sollte auch seine „Oper“ in Burkina Faso nicht etwa Aufführungen namhafter europäischer Komponisten beherbergen, die man sich an bestimmten Abenden in obligater Garderobe zu Gemüte führt – stattdessen ging es ihm darum, spontan Kunstwerke entstehen zu lassen, die einen mitten im Leben mitreißen. „Er wollte einen Rahmen schaffen, der zwar für die westliche Hochkultur steht, aber mit etwas ganz Neuem und anderem gefüllt wird.“

Dass der Titel des Projekts auch dem Wunsch nach Provokation geschuldet ist, bestätigt Schlingensief in seinem posthum veröffentlichten Tagebuch ICH WEISS, ICH WAR’S. Doch dieser existiert nicht allein um des Provozierens willen: Die Menschen sollten hinhören und sich zugleich ihrer eigenen beschränkten Vorstellung des Opernbegriffs bewusst werden. „Wer Schlingensief allein angesichts der Namen seiner Aktionen verurteilt, hat sich wohl nie näher mit seiner Tätigkeit auseinandergesetzt“, so Bleuler. Das Beispiel seiner Fernsehshow FREAKSTARS 3000, die Schlingensief zusammen mit Menschen mit Behinderungen erarbeitet hat, zeigt, dass hinter den eklatant wirkenden Titeln oftmals ein äußerst respektvoller Umgang mit sozial Benachteiligten steckt. Dagegen sind es vielmehr Politiker*innen und andere „gesellschaftliche Größen“, die hier zum Gegenstand des Spotts werden.

Die Baustelle ‚Operndorf Afrika‘ in Burkina Faso mit den unter der Anleitung Kerés errichteten Häusern, die auch von der Lokalbevölkerung nachgebaut werden sollen

Sich jeglicher Form von politischer Korrektheit zu entziehen, das wurde Schlingensief oft vorgeworfen – doch ist es überhaupt möglich, sich in der Rolle des Europäers auf ehemaligem französischem Kolonialgebiet korrekt zu verhalten? Es hätte ihm offengestanden, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen und in der Rolle des Sozialarbeiters aufzugehen, um nicht als unsensibler Ausbeuter der bedürftigen Lokalbevölkerung abgestempelt zu werden. „Aber gerade mit einer solchen Zurückhaltung hätte er wiederum gezeigt, dass er zu jenen gehört, die über die Komplexität dieses Konflikts genau Bescheid wissen, und die Einwohner in die Rolle der Unterlegenen, Ahnungslosen gedrängt. Deshalb versuchte er, so schwierig das auch war, einen dritten Weg zu wählen.“ Denn sich unvoreingenommen auf den lokalen Kontext einlassen, sich „einfach reinwerfen und Staub aufwirbeln“, wie es Bleuler formuliert, das war viel eher Schlingensiefs Art. Er begegnete den Burkinabe auf Augenhöhe und verhielt sich ihnen gegenüber wie auch zu westlichen Menschen, anstatt durch den Versuch von Subtilität althergebrachte Machtverhältnisse zu reproduzieren.

Mit dem Vorhaben, die europäische Oper in einen ganz anderen Winkel der Welt zu bringen, weist Schlingensiefs Projekt frappierende Parallelen mit jenem des exzentrischen Abenteurers in Werner Herzogs Film FITZCARRALDO (1982) auf. Darauf angesprochen, weist der Kulturwissenschaftler darauf hin, dass Schlingensief tatsächlich wie dieser auch in Manaus ein Projekt realisierte: 2007 ließ er im Amazonasgebiet die Oper DER FLIEGENDE HOLLÄNDER aufführen. Der Film bot also in jedem Fall Inspiration für sein eigenes Schaffen – und auch bezüglich Schlingensiefs Handlungsweise sind Übereinstimmungen zu erkennen. Ebenso wie Fitzgerald, der ein Schiff über einen Berg hieven ließ, schreckte er vor Herausforderungen nicht zurück, die auf den ersten Blick ans Unmögliche grenzten; auch die verrückte Art des deutschen „Kolonialisten“ erinnert an seinen eigenen Zugang zur Arbeit mit Einheimischen. Ein ähnliches Szenario, in dem auf ehemaligem Kolonialgebiet ein ambitioniertes Vorhaben realisiert wird, ist in seinem unvollendet gebliebenen Film THE AFRICAN TWIN TOWERS (2008) zu sehen, wo er gemeinsam mit Nachkommen Johann Sebastian Bachs in Namibia „Bach-Festspiele“ gründen möchte. „Die Beteiligten spielen Rollen, doch bewegen sich in der Realität, wo auch sie jede Menge Staub aufwirbeln und bemerkenswerte Kooperationen mit Einheimischen zustandebringen.“

Regisseurin Sibylle Dahrendorf (Mitte) und die Familie Sidibé

Als „beeindruckend“ bezeichnet Bleuler auch die Wende, die in den vergangenen zehn Jahren die Rezeption von Schlingensiefs Werk nahm. Sorgte es anfangs vor allem für Aufschreie und Kopfschütteln, so kam es 2016 in der Welt der Kunstwissenschaft zu einem merklichen Umdenken: „In London fand in diesem Jahr am Courtauld Institute of Art die prestigeträchtige Konferenz The Transformative Power of Art statt, in deren Rahmen das Projekt in einen Zusammenhang mit der Idee des Gesamtkunstwerks gestellt wurde. Das erscheint erst mal umso erstaunlicher, als gerade in Großbritannien angesichts der eigenen Vergangenheit eine hohe Sensibilität für neokolonialistische Tendenzen herrscht, die das ‚Operndorf‘ schnell in ein sehr schiefes Licht rücken hätte können.“ Der kritische Diskurs um das Thema stand jedoch auch auf der renommierten Kunstmesse Frieze Projects nicht im Vordergrund, bei der dem Projekt im selben Jahr eine eigene Abteilung zukam. Damit wurde es endgültig in eine Riege wichtiger zeitgenössischer Kunstprojekte gerückt, der es auch aus heutiger Sicht angehört.

Bleuler selbst ist Schlingensief nie begegnet. Er kam mit seinem Projekt erst vier Jahre nach dessen Tod in Berührung, als er im Rahmen seiner Arbeit für NGOs in Konfliktregionen Kunstprojekte initiierte und durchführte. Vor diesem Hintergrund setzte er sich verstärkt mit ähnlichen Aktionen in Gebieten auseinander, die im Vergleich zur westlichen Welt große Ungleichheitsverhältnisse aufweisen – und stieß dabei sehr schnell auf Schlingensiefs Arbeit. „Aus der Perspektive von jemandem, der auf der Suche nach Möglichkeiten des Umgangs mit dieser Disparität ist, zeigt der Künstler interessante Strategien auf: Auf dem schmalen Grat zwischen der Ausbeutung der lokalen Bevölkerung und dem Auftreten als harmoniebedürftiger Gutmensch balancierte er mit einer Leichtigkeit, die gerade dadurch zustande kam, dass er sich von keiner der beiden Seiten angezogen fühlte.“ Natürlich war Schlingensief auch ein Meister der Übertreibung und beschritt radikale Wege, die soziale wie politische Reibungsflächen eröffneten; allerdings brachte ihm dieses Vorgehen auch genau die Aufmerksamkeit ein, die ein derartiges Projekt wie das „Operndorf Afrika“ verdient. Durch seine vorgebliche Unreflektiertheit, was das „schwierige Erbe“ der Deutschen in Afrika betrifft, gelang es ihm erst, eine umso einfacher begehbare Brücke zwischen beiden Kulturkreisen zu schlagen. Und so kann Kunst in diesem Kontext bieten, was heutzutage an allen Orten der Welt herzlich willkommen wäre: ein Mittel gegen die Krankheiten der Zeit.

 

KNISTERN DER ZEIT kann über Amazon oder über die Filmgalerie 451 bezogen werden.

Photo Marcel Bleuler: © Marcel Bleuler

Alle anderen Bilder: © Filmgalerie 451
Cover-Foto: Philipp Tornau / Foto/Filmstill Grundsteinlegung: Philipp Tornau / Fotos Aino Laberenz & Baustelle: Sibylle Dahrendorf / Foto Sibylle Dahrendorf: Bianka Schulze

Claudia Maria Kraml
Claudia Maria Kraml, geboren 1995 an einem Aschermittwoch bei Neumond in der österreichischen Einöde. In der Schulzeit Veröffentlichung eines Jugendromans, den es mittlerweile nirgendwo mehr zu kaufen gibt. Nach einem unvergesslichen Jahr Lehramt seit Herbst 2014 Studium der Germanistik, derzeit MA Ältere deutsche Literatur und MA Germanistische Linguistik, Status: kurz vor dem Abschluss bzw. Doktorat. Seit 2015 Beschäftigung an der Uni Salzburg, vier Jahre lang Mitgliedschaft in und Vorsitz der Studienvertretung Germanistik. Teilnahme an, später auch Organisation und Moderation von studentischen Lesungen, Gründungsmitglied diverser Theatergruppenversuche, Verfasserin von Beiträgen über Literatur/Theater/Film. Ist auch selbst literarisch und künstlerisch tätig, mag bewölktes Nichtregenwetter und sieht Zahlen prinzipiell in Farbe (und Buchstaben auch, aber die sind viel blasser).

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