Zur Abwechslung ist es mal ganz entspannt, wenn ein Filmfestival quasi vor der Haustür stattfindet: Statt wie letzten Herbst den langen Trip nach Braunschweig zum BIFF anzutreten oder unlängst zum dritten Sweet-Movies-Festival nach Nürnberg zu reisen, konnte ich zum 13. Lateinamerika Filmfestival gemütlich mit einem Fußweg von zehn Minuten ins Salzburger Das Kino spazieren. Über 30 Filme aus den lateinamerikanischen Ländern verteilten sich da auf 12 Tage Festival – viel Auswahl, und fast alles davon aus Gegenden, die ich filmisch bislang kaum bis gar nicht erschlossen habe (es kann durchaus spannend sein, noch weiße Flecken auf der cineastischen Landkarte zu haben!).
Zum Auftakt habe ich die mexikanische Dokumentation MAMACITA gesehen. Filmemacher José Pablo Estrada Torrescano hat hier ein Porträt seiner fast 100-jährigen Großmutter inszeniert, die in Mexiko ein kleines Schönheitsimperium aufgebaut hat. Die alte Dame lebt in unfassbarem Prunk und ist vornehmlich darauf bedacht, daß alles schön und anständig aussieht – weshalb sie ihren Enkel gleich bei seiner Ankunft mal zum hauseigenen Friseur schickt. Sie selber wünscht sich das Kinoporträt, weil sie stolz auf ihre Leistung ist, aber José Pablo findet in seiner dokumentarischen Arbeit schmerzhafte Erinnerungen, die sich noch bis ins heute auswirken. Es ist ein oft witziger und ebenso anrührender Film über eine störrische Diva, zu der der Filmemacher nach und nach Zugang findet. Übrigens wird der Film im Juni noch einen regulären Kinostart in Deutschland erhalten.
Dank des Sweet-Movies-Trips konnte ich erst gegen Ende des Festivals weiter ins Programm tauchen – aber das habe ich dafür noch ausführlich gemacht. Der kolumbianische Film MATAR A JESÚS („Killing Jesus“) von Regisseurin Laura Mora Ortega erzählt von einer jungen Studentin, die den Mörder ihres Vaters sucht – und dann feststellen muss, daß es doch nicht so einfach ist, Rache zu üben, wie sie sich das vorgestellt hat. Es ist ein packender Film, der ganz rau mit der Handkamera inszeniert ist; die Laiendarsteller sind beeindruckend und geben der Geschichte große Authentizität. Weniger packend fiel das ebenfalls mit Laien besetzte mexikanische Drama EL COMIENZO DEL TIEMPO („The Beginning of Time“) von Regisseur Bernardo Arellano aus: Da erhält ein 80-jähriges Ehepaar wegen staatlichen Umwälzungen plötzlich keine Rente mehr und muss sich mit Müh und Not durchs Leben schlagen. Eigentlich eine interessante Prämisse, aber die Umsetzung ist trist: Erzählerisch herrscht die Trostlosigkeit, die Darsteller mögen „echt“ sein, spielen aber in den 110 Minuten Lauflänge stets denselben Tonfall. Mehr Leichtigkeit hätte dieser Geschichte wirklich nicht geschadet, aber die Protagonisten dieses im Schritttempo erzählten trüben Films tun einem eigentlich nur leid.
Auch das nächste Double Feature hatte ein Gefälle. Das Drama CENIZAS („Ashes“, Regie: Juan Sebastián Jácome) aus Ecuador fesselte ohne große Gesten: Da nähern sich eine Tochter und ihr Vater wieder aneinander an, nachdem der Vater sich vor vielen Jahren aufgrund ominöser Anschuldigungen (deren Inhalt wir nur erahnen können) von der Familie zurückzog. (Es fällt auf, wieviele Filme sich hier um (Groß-)Eltern und Kinder drehen – auch in EL COMIENZO DEL TIEMPO spielt der Sohn und der Enkel des Ehepaars eine Rolle.) Vor allem der Darsteller des Vaters, Diego Naranjo, ist fantastisch: In seinen Blicken steckt mehr Geschichte, als in Worten je erzählt werden könnte. Dazu kommt das ungewöhnliche Setting des Films: Der Vulkan Cotopaxi hat eine große Aschewolke über die Stadt gelegt, weshalb es beständig grau vom Himmel regnet und die Figuren sich oft den Dreck von der Kleidung und aus den Haaren klopfen müssen – ein großartiges Bild für die Beziehung der Figuren, bei denen schon verbrannte Erde herrscht und vielleicht ein katastrophaler Ausbruch bevorsteht.
Höchst mühsam dagegen der nächste Film: COCOTE von Nelson Carlo De Los Santos Arias, ein Experimentaldrama aus der Dominikanischen Republik – produziert vom Salzburger Lukas Valenta Rinner, der nach Argentinien ausgewandert ist und selber auch als Regisseur arbeitet (PARABELLUM, DIE LIEBHABERIN). Da reist ein Mann, der als Gärtner bei reichen Leuten in Santo Domingo arbeitet, zurück ins Heimatdorf, weil sein Vater gestorben ist (schon wieder Eltern-Kind-Beziehungen!). Dort nimmt er an den Rezos teil, einem neuntäigen Trauerritual, und kommt bald darauf, daß sein Vater ermordet wurde – weshalb er auch Rache sucht. Inszeniert ist das als sperrige Mischung aus verschiedensten Filmstilen – gespielt und dokumentarisch, farbig und schwarz-weiß, manchmal in 4:3, gerne in unglaublich statischen Bildern, die sich ganz bewußt gegen jegliche Zusehererwartung stellen: Manchmal wird unendlich langsam von der Szene weg auf eine Mauer geschwenkt, einmal schaut man eine lange Sequenz lang nur auf eine verschlossene Tür. Produzent Rinner war bei der Vorführung zu Gast und hat hinterher spannende Geschichten vom ungewöhnlichen Dreh erzählt und interessante Gedanken über Brechtsche Verfremdungseffekte angesprochen – es ist ein interessanter Film, den er da beschrieben hat, und es ist wahrlich schade, daß ich diesen Film nicht gesehen habe. Der avantgardistische Stil von COCOTE hat ihm schon diverse Preise beschert – in Locarno z.B. wurde er als „bester Film“ ausgezeichnet – aber ich bin bei aller Liebe für ungewöhnliches und auch schwieriges Kino dann wohl doch zu sehr dem Erzählerischen zugeneigt: Wenn sich ein Film derart gegen mich als Zuseher querstellt, bleibt mir eigentlich nur das Schulterzucken – zumal unser Protagonist so sehr leeres Chiffre bleibt, daß mich seine angerissene Geschichte auch nicht im Geringsten mehr kümmert.
Die nächste Geschichte war filmisch das genaue Gegenteil: EL ÁNGEL („The Angel“), ein argentinischer Film von Luis Ortega, produziert von Pedro Almodóvar, schwelgt in Farben, Stimmung, Atmosphäre – das Argentinien der Siebziger, das hier in herrlichen Bildern eingefangen wird, fühlt sich zum Greifen echt an. Der Film dreht sich um den Kriminellen Carlos Robledo Puch, der Anfang der Siebziger eine Reihe sinnloser Einbrüche, Diebstähle und Morde verübt hat – weil er so ein unschuldiges Gesicht hatte, wurde er zum „Todesengel“ hochstilisiert. Allzu eng dürfte sich der Film nicht an die Fakten halten, was nicht tragisch ist – aber der Film bleibt leider letztlich so leer wie sein Patrick-Bateman-hafter Protagonist, über den wir hinterher eigentlich auch nicht mehr wissen als vorher. In seiner fast sinnlichen Inszenierung reißt einen EL ÁNGEL eine ganze Zeitlang mit und hält das Interesse am Geschehen stets wach, nur bleibt hinterher die Frage, was Ortega eigentlich erzählen wollte.
Eine ganz wundervolle Entdeckung ist der Film VIAJE aus Costa Rica, inszeniert von Paz Fábrega: In ganz einfachen Schwarz-Weiß-Bildern wird da einfach von einer jungen Frau und einem jungen Mann erzählt, die sich auf einer Party kennenlernen und miteinander nach Hause gehen – nur, daß sie dort eigentlich schon zu müde sind, um noch irgendwas zu machen. Dafür begleitet sie ihn am nächsten Tag in den Nationalpark Rincón de la Vieja, wo er Forschungen für sein Studium anstellt – und so sehen wir den beiden einfach nur dabei zu, wie sie sich gegenseitig kennenlernen. Das hat etwas von Linklaters BEFORE SUNRISE, auch wenn die Bildsprache anders funktioniert; der Charme der beiden Schauspieler und die Leichtigkeit, mit der ihre Verbindung erzählt wird, haben jedenfalls etwas Magisches an sich. Es ist wohl mein Favorit aus dem Festivalprogramm, und ich hoffe, bald noch mehr von Paz Fábrega sehen zu können.
Den Abschluß bildete DISTANCIAS CORTAS („Walking Distance“), ein mexikanischer Film von Alejandro Guzmán Álvarez: Da vegetiert ein 200 Kilo schwerer Mann einsam in einer heruntergekommenen Wohnung vor sich hin, Besuch kriegt er nur gelegentlich von seiner mißbilligenden Schwester und deren Ehemann. Als er aber bei sich in einem weggeräumten Photoapparat eine alte Filmrolle entdeckt, für deren Entwicklung er sich auf den beschwerlichen Weg in den nächsten Photoladen macht, gerät etwas in seinem Leben in Bewegung, und plötzlich füllt sich sein Tag wieder, während er auch eine neue Freundschaft findet. Es ist eine wundervolle Überraschung, wie witzig dieser eigentlich dramatische Film ist: Viele Szenen sind mit sehr warmherzigem Humor erzählt, obwohl der Protagonist so eine tragische Figur ist. Diesem schwer übergewichtigen Mann (Menschen solcher Körperfülle sieht man sonst wohl nur in Troma-Filmen) begegnet der Film auf Augenhöhe; er zeichnet ihn nicht als Sozialfall, sondern als sympathischen Mann, bei dem im Leben so manches schiefgelaufen ist. Es ist ein leiser, aber wunderschöner Film.
Acht Filme aus über 30 sind keine schlechte Ausbeute, auch wenn es natürlich noch viel mehr gegeben hätte, das interessant gewesen wäre: der kubanische Tanzfilm YULI zum Beispiel, der den Publikumspreis gewonnen hat (und aber auch nach dem Festival regulär im Das Kino laufen wird). Der mexikanische Film SUENO EN OTRO IDIOMA (“ I Dream in Another Language“), in dem ein Sprachwissenschaftler nach einer fast ausgestorbenen (fiktiven) Sprache forscht und feststellen muß, daß die letzten beiden Sprecher schon seit 50 Jahren schwer miteinander verfeindet sind. Oder der italienisch-argentinische Experimentalfilm ORG von Fernando Birri, der seit 1979 nicht mehr gezeigt wurde. Ich hoffe, den einen oder anderen Film noch bei anderer Gelegenheit sehen zu können – das hübsch gestaltete Festivalbooklet wird mir sicher auch jenseits des Festivals als Reiseführer dienen.
Das 13. Lateinamerika Filmfestival war eine fantastische Gelegenheit, Schätze im Kino zu entdecken, die sonst wohl spurlos an einem vorbeiziehen würden. Die nächste Ausgabe des Festivals kommt 2021: Ich freue mich jetzt schon.