In Aaron Sorkins Regiedebüt MOLLY’S GAME wird die Protagonistin Molly Bloom, die jahrelang teure Pokerspiele für Stars und Schwerreiche organisiert hat, von ihrem Anwalt gefragt, warum sie sich nicht auf einen Deal mit der Staatsanwaltschaft einlassen und Informationen über ihre Klienten preisgeben will. Molly, der schon alles andere genommen wurde, stellt klar, warum sie an ihrer persönlichen Integrität festhält: „Because it’s my name… and I’ll never have another.“ Es ist, und das wird auch hervorgehoben, ein Beinahe-Zitat aus Arthur Millers HEXENJAGD: „Because it is my name! Because I cannot have another in my life! Because I lie and sign myself to lies!“, erklärt der Bauer John Proctor da am Ende, obwohl er mit einem falschen Geständnis sein Leben retten könnte.
O.J. Simpson hat weniger Probleme damit, seinen Namen zu veräußern – auch nicht für ein vielleicht erfundenes und vielleicht echtes Pseudo-Geständnis des Mordes an seiner Ex-Frau Nicole Brown und ihrem Bekannten Ron Goldman. 2006 ließ sich der gefallene Star, der 1995 freigesprochen wurde und dennoch in den Augen vieler als schuldig gilt, zu einem Buch mit dem Titel IF I DID IT überreden, in dem er (beziehungsweise sein Ghostwriter) von seiner Beziehung zu Brown erzählt und dann in einem hypothetischen Teil beschreibt, wie er die Morde begangen hätte – wenn er sie denn begangen hätte.
O.J. Simpson im Gespräch mit Verlegerin Judith Regan. |
Zur Promotion des Buchs ließ sich Simpson auch auf ein ausführliches TV-Interview ein, in dem er die Mordnacht ebenso hypothetisch beschreibt. Weil der Aufruhr um das geschmacklose Werk noch vor der Veröffentlichung so groß war, daß sogar Verlegerin Judith Regan ihren Job verlor (sie verklagte deswegen später ihren Arbeitgeber), wurde das Interview in den Giftschrank gepackt. Das Buch erschien mit etwas Verzögerung unter Aufsicht der Familie von Ron Goldman – auf die bizarre Geschichte hinter der Veröffentlichung gehe ich im Text zu IF I DID IT näher ein.
Aber natürlich muß die Geschichte weitergehen: Der Fernsehsender Fox kramte das Gespräch 2018 wieder hervor, strickte daraus das TV-Special O.J. SIMPSON: THE LOST CONFESSION? und strahlte es am 11. März zur Prime Time aus – als Konkurrenzprogramm zu ihrem einstigen eigenen Zugpferd AMERICAN IDOL, das mittlerweile auf ABC beheimatet war. (Mit nur 4,4 Millionen Zusehern gegenüber den 10,3 von AMERICAN IDOL ging das Konzept nicht auf.) Das O.J.-Interview wurde dabei allerdings nicht unkommentiert gelassen: Neben der alten Aufzeichnung trat eine, nunja, Expertenrunde zusammen, die O.J.s Worte einordnen sollten – darunter Judith Regan und einer der damaligen Ankläger, Christopher Darden.
Christopher Darden, 1994 einer der Ankläger von O.J. Simpson. |
Wer das Buch gelesen hat, für den erscheinen Simpsons Erzählungen nicht gar so bizarr wie für den Rest der Öffentlichkeit – weil sie schlichtweg schon bekannt sind. Auch hier erklärt er zu seiner Beziehung zu Nicole, daß er sie sehr geliebt habe, und hat einfache Erklärungen für die Fälle häuslicher Gewalt, die durch die Medien gingen und in seinen Augen ganz banale Mißverständnisse waren, die aufgebauscht wurden. Und auch hier taucht in der Mordnacht dieser ominöse Freund „Charlie“ auf, der ihn gewissermaßen anregt, für Ordnung im Hause seiner Ex-Frau (und damit seiner Kinder) zu sorgen. (Wenn man es so formuliert, mag man vielleicht an den Hausmeister Grady in SHINING denken, der über die Ermordung seiner Frau sagt: „I corrected her“.)
Fast spannender als der Inhalt der Erzählung ist wohl, wie sie erzählt wird. Wo im Buch nur einziges Mal eingeschoben wird, daß der folgende Teil hypothetisch sei (und nie eine Stelle kommt, wo die Geschichte klar von der Hypothese zurück in die Wirklichkeit schwenkt), weist Simpson im Interview immer wieder darauf hin. Gleichzeitig ist das Erzählte aber nie im Konjunktiv: Er tat dies, er tat jenes, und immer wieder kommen Konstruktionen wie „I remember“, die schlichtweg nicht in der Hypothese funktionieren. Kann man sich erinnern, was man sich bei einer hypothetischen Tat gedacht hat?
Verlegerin Judith Regan im Interview von 2006. |
Abgesehen vom bizarren Inhalt aber gibt sich O.J. in dem Gespräch ganz so, wie man ihn früher immer gesehen hat: Er plaudert auf charmante Art, lächelt freundlich, lässt seine angenehme Stimme ihre Wirkung entfalten. Über weite Strecken klingt er, als würde er Erinnerungen aus seiner Zeit bei der NFL aufwärmen. Einmal lacht er nervös und wirft mit Grimasse ein, daß er ja nicht will, daß ihn die Leute angesichts der hypothetischen Mordgeschichte für einen „you know“ halten: einen Mörder. Aber sonst gibt er den Zuschauern den O.J., den sie vor dem Prozeß so sehr geliebt haben.
Verlegerin Judith Regan, die das Interview höchstselbst leitet, sitzt ihm gegenüber wie ein Reh im Scheinwerferkegel. Mit weit aufgerissenen Augen und starrer Miene blickt sie ihn an, sichtlich um einen Hauch von Seriosität bemüht. Sie fragt kaum nach, nur bei der Hypothese will sie einige Details wissen – oder Simpson mit ihren Einwürfen einfach am Reden halten. Die interessanten Fragen stellt sie leider nie: Warum dieses Buch, Mr. Simpson? Woher kommt die irrwitzige Idee, sich als hypothetischer Mörder zu inszenieren? Was halten Ihre Kinder davon, daß Sie hier im Fernsehen darüber reden, vielleicht ihre Mutter umgebracht zu haben, Mr. Simpson? Aber statt David Frost gibt Regan nur den Wayne Gale.
Die Expertenrunde seziert O.J.s altes Interview. |
Um sich ausreichend von dem Interview zu distanzieren, wird die Aufzeichnung des Gesprächs immer wieder angehalten, damit die Studiorunde das Gesagte sezieren kann. Es wird dadurch freilich kein bißchen weniger reißerisch: Eine Freundin von Nicole Brown scheint einzig aus dem Grund eingeladen worden zu sein, damit die Kamera in Nahaufnahme zeigen kann, wie ihr immer wieder die Tränen kommen.
Wie schon im O.J.-Prozeß seinerzeit verfolgt natürlich auch heute noch jeder in dieser Geschichte ganz eigene Absichten. Daß Christopher Darden die hypothetische Erzählung für ein echtes Geständnis hält, ist wohl keine Erleuchtung: Als damaliger Ankläger wird er nun kaum äußern, daß er sich die Angelegenheit nochmal überlegt hat, sondern sucht natürlich Bestätigung, die seine damalige Niederlage auffangen kann (vor allem wohl den Teil des Prozesses, in dem er Simpson anregte, die gefundenen Handschuhe anzuziehen – die dem Angeklagten dann nicht paßten). Und daß eine Dame von einer Einrichtung zur Hilfe von Opfern häuslicher Gewalt O.J.s Erklärungen für die Vorfälle gar nicht annehmen kann, ist auch klar: Sie ist hier, um Bewußtsein zu schaffen.
V.l.n.r.: Der ehemalige Staatsanwalt Christopher Darden, Nicole Browns Freundin Eve Shakti Chan und Verlegerin Judith Regan. |
Judith Regan muß sich natürlich am stärksten und demonstrativsten von allen von der Interviewaufzeichnung distanzieren: Damals war das O.J.-Buch noch ein lukratives Geschäft, bei dem der berüchtigte womögliche Täter bereitwillig mitmachte, obwohl er sonst seine Unschuld beteuerte. Nach dem Aufruhr der Empörung, die Mordfälle derart geschmacklos ausgeschlachtet zu haben, kann sie natürlich heute nur darauf pochen, die Wahrheitsfindung im Sinne gehabt zu haben: Natürlich wollte sie O.J. reden lassen, weil er sich in ihren Augen mit jedem Wort selber einen Strick drehte, und natürlich hält sie das Gesagte für ein ganz klares Geständnis. Ganz dramatisch erzählt sie, wie O.J. sie während einer Drehpause anlächelte und sagte: „You thought you wouldn’t like me, but I changed your mind“ – ganz so, als hätte sie ihn bei einem grandios orchestrierten Manipulationsversuch erwischt.
Aber dann erwähnt sie auch, wie O.J. zwischendurch immer wieder gehen wollte, mehrfach während der Mordgeschichte das Studio zu verlassen drohte – wovon in der Aufzeichnung aber nichts zu sehen ist. Ganz offenbar ist das Interview also aus einer längeren Sitzung zusammengeschnitten, was wiederum die Authentizität des Gezeigten ungefähr auf die Ebene des dazugehörigen Buches bringt, in dem der Ghostwriter schon im Vorwort zugibt, O.J. für schuldig zu halten und ihm das düstere Kapitel, das O.J. gar nicht im Buch haben wollte, Stück für Stück aus der Nase gezogen zu haben. Nach Ausstrahlung des Interviews gab Simpsons Anwalt Malcolm LaVergne folgendes Statement ab: „This was scripted by Judith Regan, the publisher of the book. Mr. Simpson went along because quite frankly he got a lot of money up front to go along with this.“ Regan bezeichnet das als Diffamierung und droht derweil mit einer entsprechenden Klage.
Moderatorin Soledad O’Brien im Gespräch mit dem ehemaligen FBI-Profiler Jim Clemente. |
Sprich: Wie bei jedem Kapitel der O.J.-Simpson-Saga ist hinterher auch niemand klüger als vorher. Offenbar hat Simpson für Buch und TV-Interview ganz einfach etwas verkauft, was sowieso keinen Wert mehr hat: seinen Namen. Alles andere macht wenig Sinn: Wenn er als Unschuldiger die Menschen davon überzeugen wollte, der gute alte O.J. zu sein, würde er wohl von der Mordgeschichte weiten Abstand nehmen. Und wenn er als Schuldiger seine Taten gestehen wollte, könnte er das gefahrlos tun – aufgrund des amerikanischen „Double Jeopardy“-Rechts könnte er trotzdem nicht noch einmal des Mordes angeklagt werden. (Regan behauptet, er habe auch gestehen wollen, aber hätte es aus Rücksicht auf seine Kinder in eine Hypothese gepackt.)
Kurz nach der Ausstrahlung hat Simpson der Buffalo News ein Interview gegeben – und darin hauptsächlich über seine Zeit als Footballspieler geredet. „Anybody that saw me play will remember me as a football player“, sagt er da. Vielleicht ist ihm sein Name ja doch plötzlich wieder etwas wert.
Mehr über O.J. Simpson auf Wilsons Dachboden:
I WANT TO TELL YOU: Wie O.J. Simpson während seines Prozesses an die Öffentlichkeit ging
IF I DID IT: Das Pseudo-Geständnis von O.J. Simpson
Die Screenshots stammen von einer Aufzeichnung der Fox-Sendung.