Schon gleich am Anfang hat man das Gefühl, daß bereits alles vorbei ist. Ein Auto fährt durch die Waschstraße, durch die Frontscheibe sehen wir die Geräte starr ihre Arbeit verrichten. Die Credits laufen ebenso mechanisch darüber. Die Personen im Wagen schweigen sich an.
Was folgt, ist wie eine Bestandaufnahme des Lebens einer Familie, die am Ende Suizid begehen wird. Wie das kleingehackte Fleisch, das der Supermarktangestellte hier verkauft, scheinen auch die Welt und ihre Protagonisten in Einzelteile zu zerfallen. Die Tagesabläufe werden in aneinandergereihten Close-Ups der banalen Details gezeigt: Registrierkasse, Einkaufswagen, Zapfsäule. Die Menschen sind genauso auf Einzelheiten reduziert, als wären sie unvollständig. Am Frühstückstisch sieht man von Familie keine Köpfe.
Starre Rituale: Die Familie beim Frühstückstisch. |
Es sind drei Jahre, die die Handlung umspannt, sorgsam in einzelne Segmente unterteilt. Wir lernen die Familienmitglieder kennen: Mutter, Vater, Tochter. Manchmal taucht der Bruder der Mutter auf, der nach dem Tod der Eltern depressiv geworden ist. Wir verfolgen ihren Alltag: Wecker, Dusche, Frühstück, Auto aus der Garage heraus, Arbeit im Büro, Auto in die Garage hinein, Nachtgebet mit der Tochter. Es wirkt wie ein von allen Redakteuren verlassenes Reality-Programm.
Die ersten beiden Segmente bzw. Jahre funktionieren dabei als Spurensuche: Was bringt diese Menschen dazu, freiwillig aus dem Leben scheiden zu wollen? Sind es die ewig gleichen Abläufe, die den Alltag so trivial machen? Ist es die stumpfe Arbeit des Manns, die nur aus dem Bearbeiten von Zahlenkolonnen zu bestehen scheint? Ist es Zivilisationsmüdigkeit? Oder sind es emotionale Brüche, die den Familienmitgliedern schon vor langer Zeit widerfahren sind? Als die Familie eines Abends auf der Autobahn an einem Unfall vorbeifährt, verstört der Anblick der Körper auf der Straße die Mutter – und ihr Mann kann sie kaum trösten. Vielleicht weint sie über ihr eigenes bevorstehendes Ende, vielleicht hat er schon lange resigniert. An einer anderen Stelle gibt die Tochter in der Schule vor, erblindet zu sein. Als die Mutter davon hört, will sie von der Tochter, die alles abstreitet, ein Geständnis. Sie verspricht ihr, sie nicht zu bestrafen – und gibt der Tochter dann, als sie alles zugibt, im Affekt eine Ohrfeige.
Im dritten Segment vollzieht die Familie mit ebensolcher mechanischen Sorgfältigkeit ihren eigenen Suizid. Der Job wird gekündigt, das Auto wird verkauft, das Geld von der Bank abgehoben. In der Wohnung wird die Einrichtung zerstört: Kleidung wird zerrissen, die Möbel werden zertrümmert, die Bücher zerrissen. Es ist ebenso trostlos arrangiert wie das Leben davor – anstatt sich von der Last der Dinge befreien zu können, wird die Familie schon so über die Gegenstände bestimmt, daß deren Destruktion nur die eigene vorwegnimmt.
„Ich glaube, es geht nur, wenn wir systematisch vorgehen“: Georg Schober (Dieter Berner) beginnt mit der Zerstörung seines Lebens. |
„Ich wollte keine Antworten geben“, erklärt Michael Haneke im Interview zu seinem ersten Kinofilm DER SIEBENTE KONTINENT: Fragen finde er viel wichtiger. Es ist ein zunächst merkwürdig anmutender Satz eines Regisseurs, dessen Filme so gerne wirken, als wüßte er schon genau, was in der Gesellschaft schiefläuft, als wollte er gezielt den Finger auf diese Probleme legen, um den Zuseher darüber zu belehren.
Mit der Konzeptionsgeschichte des Drehbuchs findet man etwas mehr Klarheit darüber, was er mit Fragestellungen meint: Der Film war zunächst so arrangiert, daß vom Suizid ausgehend die Geschichte der Familie in Rückblenden erzählt wurde – nur mußte Haneke feststellen, daß mit dieser Konstruktion jede Sequenz erklärend funktionieren würde. Also zog er das Skript andersherum auf, um den definitiven Antworten auszuweichen – jede vorangegangene Sequenz kann alles und nichts im Hinblick auf den Selbstmord bedeuten, der tatsächliche Beweggrund soll so mysteriös bleiben, wie er es im wahren Leben war, als die Nachricht von dem tatsächlichen Fall in den Zeitungen auftauchte.
Dennoch wirkt DER SIEBENTE KONTINENT nicht wie ein Film, der sich seine Geschehnisse nicht erklären kann – zu streng und komponiert sind alle seine Einstellungen, Abläufe und Symbole. Es ist eine Geschichte darüber, wie unser Leben durch Banalitäten bestimmt wird, wie der Mensch vor lauter Gegenständen, Routinen und Transaktionen zerfällt. Die wichtige Frage, die in diesem schrecklichen Porträt bürgerlicher Existenz steckt, muß man sich dagegen selber stellen: Was ist die Alternative?
Der siebente Kontinent (Österreich 1989)
Regie: Michael Haneke
Buch: Michael Haneke
Kamera: Anton Peschke
Darsteller: Birgit Doll, Dieter Berner, Leni Tanzer, Udo Samel
Alle Screenshots stammen von der französischen BluRay (C) TF1 Vidéo.