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ERSTE KLASSE: Eine Zugreise mit Terrorkind

Vater und Terrorsohn: Carmelo und Malcolm

„Wir finden, dass Sie und ihr Söhnchen schon eine gewisse Zumutung sind“, meint eine Frau im Zugabteil zu Carmelo und seinem vierjährigen Bub Malcolm. Die werte Dame untertreibt hemmungslos: Das Kind ist der absolute Terror.

In der italienischen Komödie ERSTE KLASSE reist Carmelo (Enrico Montesano) mit seinem Sohn Malcolm zu dessen Großmutter, damit seine Frau vierzehn Tage Urlaub mit ihrem Freund machen kann. Weil sich bislang immer die Mutter um das Kind gekümmert hat, ist er als Vater hoffnungslos überfordert. Im Zug lernt er die schöne Beatrice (Sylvia Kristel) kennen, die unterwegs zu einem Kongress ist, um dort einen Vortrag über das prähistorische Skelett zu halten, das sie rekonstruiert hat. Zwischen Carmelo und Beatrice bahnt sich eine kleine Affäre an – aber die wird ständig durch das aufgedrehte Kind wieder eingebremst …

Carmelo bandelt mit Beatrice an
Manchmal kann sich so eine ÖBB-Vorteilscard schon lohnen.

Daß Carmelo der väterlichen Verantwortung für Malcolm entkommen will, ist nur allzu verständlich: Der Knabe ist wahrlich niemandem zuzumuten. Selbst Rosemarys Baby stellt man sich gegen Malcolm als Engelskind vor: Der Junge plärrt permanent in voller Lautstärke, was er gerade will, läuft ständig weg, droht einer Mitreisenden mit der Stricknadel das Auge auszustechen, klettert in die Gepäckablage hoch, zerfetzt Zeitschriften, wirft mit Essen und Bananenschalen um sich und macht sich unter Ankündigung wonnig in die Hose. Er könnte im Alleingang das Problem der Überbevölkerung lösen: Wer über Nachwuchs nachdenkt, wird sich das nach der Sichtung des Films nochmal ganz genau überlegen.

Wem Malcolm noch nicht lustig genug ist, darf sich freuen, daß auch die restliche Zugbesatzung Vollgas gibt. Da lauert in einem Abteil eine Bande militanter Feministinnen, die geifernd über jeden verdächtigen Mann herfallen, während der Frachtwaggon des Zuges von einem comicbegeisterten Revolverheld bewacht wird, der gerne Schauspieler wäre. Als er Carmelo und Beatrice in einer Sequenz mit gezückter Pistole stellt, weil er sie für Diebe hält, läßt er sich von Carmelo das schlafende Kind in den Arm legen, damit der überhaupt die Hände hochhalten kann.

Sylvia Kristel oben ohne
Ach, drum wird der Film auf DVD unter dem Titel ERSTE KLASSE SEX vermarktet.

Beatrice erwärmt sich derweil in rasanter Geschwindigkeit für das Plappermaul Carmelo und findet es erregend, als der im Gedanken an seine Frau „Nutte“ zischt und sie glaubt, selber gemeint zu sein. Später wird sie seufzen, daß sie immer Männer kennenlernt, „die schon anderweitig verpflichtet sind“. Sie wird dem Kind auch aufgebracht eine Ohrfeige geben, als es sich im Frachtwagen an ihrem Skelett zu schaffen macht, und kurz darauf Carmelos Gepäck aus dem Fenster werfen, weil der sie diesbezüglich zur Rede stellt. Ach ja, und Carmelo wird irgendwann sein Kind an einem Bahnhof zurücklassen, damit er endlich ungestört bei Beatrice landen kann – wobei das wohl selbst der aufrechteste Pädagoge angesichts dieses verhaltensauffälligen Kindes verstehen können wird.

„I have seldom heard a train go by and not wished I was on it“, schrieb einst Reiseschriftsteller Paul Theroux über die Romantik der Zugfahrt. Die Ausnahme, die er andeutet, wird ein Kinobesuch von ERSTE KLASSE gewesen sein.

 

Erste Klasse (Italien/Frankreich 1980)
Originaltitel: Un amore in prima classe / L’amour en premiere classe
Alternativtitel: Erste Klasse Sex
Regie: Salvatore Samperi
Buch: Salvatore Samperi, Gianfranco Manfredi, Giorgio Basile
Kamera: Camillo Bazzoni
Musik: Roberto Colombo, Gianfranco Manfredi
Darsteller: Enrico Montesano, Sylvia Kristel, Lorenzo Aiello, Franca Valeri, Felice Andreasi, Enzo Cannavale, Luc Merenda

Die Screenshots stammen von der DVD (C) 2009 KNM/Movie Power.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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