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TÖTET MRS. TINGLE: Der Test des Erwachsenwerdens

Ich habe schon vor einigen Jahren die bislang einzige Regiearbeit von SCREAM-Autor Kevin Williamson hier betextet: TÖTET MRS. TINGLE. Nun hat sich der tapfere Gastautor Dr. Wily nochmal an den Film gewagt, den er seit anderthalb Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat – und stellt einige Überlegungen dazu an, warum Williamson ihn nicht mehr so begeistert wie früher.

Was hab‘ ich damals auf diesen Film gewartet! Das sagenumwobene erste Drehbuch von Kevin Williamson, von dem er in Reportagen und Interviews so viel und so spannend erzählt hatte. Als TÖTET MRS. TINGLE 1999 erschien, war ich von seinen Geschichten noch begeistert. Zwei SCREAMs, ICH WEISS, WAS DU LETZTEN SOMMER GETAN HAST und DAWSON’S CREEK (die erste Staffel verteidige ich bis heute) hatten mich völlig für sich eingenommen. Und dann gab es da ja auch noch THE FACULTY, den ich ebenso super fand (und seit damals nicht mehr gesehen habe). Nach erneutem Filmgenuss von TÖTET MRS. TINGLE steht allerdings zu befürchten, daß auch THE FACULTY den Test des Erwachsenwerdens vielleicht nicht ganz bestehen wird.

TÖTET MRS. TINGLE hatte ich kaum in Erinnerung. Ein, zwei Szenen vielleicht, aber zum Beispiel die Armbrust oder die Tatsache, daß Helen Mirren ans Bett gefesselt wird, sind meiner Erinnerung entschwunden. Nur so ein Gefühl von Enttäuschung ist dem Film immer nachgehangen.

Die Cast zeigt sich von der Story sichtlich verwirrt.

Bei neuerlichem Sehen wird die Sache schnell sehr klar. TÖTET MRS. TINGLE (der ursprünglich KILLING MRS. TINGLE hieß, dann aber wegen den Columbine-Morden in TEACHING MRS. TINGLE umbenannt wurde – was den deutschen Übersetzer aber offenbar nicht gestört hat) funktioniert einfach nicht.

Drei Schüler kidnappen ihr fiese, niederträchtige Lehrerin, damit sie der Musterschülerin bessere Noten gibt: Die absurde Prämisse könnte vielleicht als überdrehte Komödie funktionieren – was nur Marisa Coughlan für zumindest zwei Drittel des Films verstanden hat. Katie Holmes läuft als Hauptfigur Leigh Ann dagegen durch eine Teeniesoap. Barry Watson ist einfach als Judd-Nelson-Verschnitt gecastet und dafür zu fesch und zu ungefährlich. Helen Mirren spielt einen Psychothriller. Nun kann man kann ihr nicht absprechen, daß sie die böse, verbitterte Lehrerin Mrs. Tingle nicht mit sichtlichem Spaß spielt. Es ist ja auch eine coole Rolle, darum wird sie sie auch angenommen haben. Daß mit Williamson ein damals erfolgreicher und gefragter Name involviert war, könnte ihr die Entscheidung erleichtet haben.

Das Drama an dem Film ist, daß Williamson weder weiß, welche Geschichte er erzählen will, noch wie er sie erzählen will. TÖTET MRS. TINGLE findet nie einen roten Faden. Wie gesagt, als Komödie könnte die Idee funktionieren, aber Kevin Williamson ist kein Komödiant, sondern hatte schon immer einen starken Hang zu Sentimentalität, Kitsch, Drama und Pathos.

Why suddenly so serious, Ms. Coughlan?

Darüber hinaus ist es einfach ein erstes Drehbuch mit all seinen Schwächen. Sein Hauptthema – die Spiegelcharaktere Leigh Ann und Mrs. Tingle – ist schlecht ausgearbeitet und plump erzählt. Mrs. Tingle begreift die Auseinandersetzung mit Leigh Ann als Spiel. „Your move“, sagt sie immer, wenn sie ihre drei Entführer wieder in psychologische Bedrängnis gebracht hat. Sie tut das, weil das Drehbuch es cool findet. Das Drehbuch hat aber übersehen, Leigh Ann als jemand zu zeichnen, der auch taktiert. Katie Holmes spielt ihre Figur nie als das ebenbürtige Gegenüber, als das Mrs. Tingle sie aber anspricht. Vielmehr erwähnt das Buch immer wieder, wieviel Angst Leigh Ann hat.

Darüber hinaus hapert es am Grundsätzlichen: Wenn sich unsere Identifikationsfigur im Laufe der Geschichte genauso kalt, berechnend und fies verhält wie ihr Erzfeind, warum soll ich dann um sie bangen? Und warum soll ich mich am daraus resultierenden fragwürdigen und verlogenen Ende über ihren Erfolg freuen?

Dennoch bin ich, vielleicht aus Sentimentalität oder Nostalgie, bereit, dem Film ein paar Dinge zuzugestehen. Es ist nicht der erste Film, der den immensen Leistungsdruck der Schüler und deren extreme Abhängigkeit von guten Noten zum Thema hat, aber ich kenne wenige Geschichten, in denen Schüler aus Verzweiflung und Angst um ihre Zukunft zu solch drastischen Mitteln greifen – obwohl die Idee, es den gemeinen Lehrern heimzuzahlen, denen man schutzlos ausgeliefert ist, vielen durch den Kopf geht. Damit ist TÖTET MRS. TINGLE die Bebilderung einer Phantasie, die besser funktionieren würde, wenn sich der Film auf einen emotionalen Tonfall einigen könnte.
Darüber hinaus ist der in Mrs. Tingle personifizierte Neid, die Verbitterung über die eigene Biographie und die daraus entstehende Mißgunst der älteren Generation den Jungen gegenüber wahrscheinlich näher an der Wirklichkeit dran, als uns lieb ist.

Stilvoll ans Bett gefesselt – versteckt sich hier gar ein 50-SHADES-OF-GREY-Vorläufer?

Nach MRS. TINGLE ging es für mich mit Kevin Williamson jedenfalls bergab. Ich habe mich jetzt beim Wiedersehen mit MRS.TINGLE gefragt, warum mich seine Geschichten in dieser Zeit, als ich zwischen 17 und 20 Jahre alt war, so beeindruckt haben. Wenn man Williamsons Werk als Ganzes betrachtet, erkennt man, daß er sich zunächst bei Teenagergeschichten zuhause fühlt und dann weiter bei Horror und Mystery. Vielleicht hat er mir ein bißchen was über mich und mein Leben erzählt. Die Angst vor dem, wie das Leben nach dieser Umbruchzeit weitergeht, die Angst vor der Welt da draußen konnte ich mit seinen Figuren auf der Leinwand durchstehen. Dazu gibt es sogar tiefenpsychologische Theorien.

Ich gehe bis heute ins Kino, um Leute kennenzulernen. Nicht die an der Kassa oder im Sitz neben mir (zweitere kenne ich nämlich meistens ohnehin schon), sondern die Leute auf der Leinwand. Für mich ist das immer so, als würde ich sie eine Zeitlang in ihrem Leben begleiten, und ich stelle mir immer automatisch vor, woher sie kommen, was rund um den Plot sonst so passiert in dieser Welt und wie es nach dem Abspann mit ihnen weitergeht. So konnte ich damals ins Kino gehen und mir von einem alten Freund neue Geschichten erzählen lassen, in denen auch immer wieder mal alte Bekannte mitspielten, die man so auch in ihrem Leben begleiten konnte.

Die 50-SHADES-OF-GREY-Theorie wird immer stichhaltiger.

Gegruselt hab‘ ich mich auch schon immer gern. Williamsons Filme haben wohl dort angeknüpft, wo ich mit Stephen Kings Romanen ein paar Jahre zuvor aufgehört hatte. Diese Filme waren mein Eintritt in die Welt des Horrorfilms. Davor hatte ich nur wenige davon gesehen. Zwar genug, um die meisten Anspielungen in SCREAM zu verstehen, doch die große weite Gruselwelt hat sich für mich erst mit Williamsons Geschichten eröffnet. Wahrscheinlich konnten mich auch deshalb viele Stereotype darin einfach nicht stören.

Außerdem hatte es etwas mit Exklusivität zu tun. Ich war schon der Einzige in meiner Klasse, der begeistert die Brit-Pop-Welle ritt, aber auf Oasis konnten sich die anderen dann doch irgendwann einigen. Da konnte ich gerade noch den Anspruch für mich erheben, der Erste gewesen zu sein. Bei der Horrorwelle, die mit SCREAM begann, war ich aber allein auf weiter Flur. Sowas nur für sich allein zu entdecken und zu haben, tut dem Ego in diesem Alter schon gut.

Aber irgendwas ist dann passiert (Christian stellt in seinem Text zu TÖTET MRS. TINGLE ja sogar die These auf, Kevin Williamson hätte sein Pulver schon mit dem Drehbuch zu SCREAM verschossen gehabt). DAWSON’S CREEK begann sich tatsächlich ernst zu nehmen und wurde unerträglich. VERFLUCHT, Williamsons neuerliche Zusammenarbeit mit Wes Craven, soll ich sogar gesehen haben – behaupten Freunde, die dabei waren. So sehr hat er mich beeindruckt. Vermutlich bin ich dann erwachsen geworden – und Kevin Williamson nicht.


Tötet Mrs. Tingle (USA 1999)
Originaltitel: Teaching Mrs. Tingle
Regie: Kevin Williamson
Drehbuch: Kevin Williamson
Kamera: Jerzy Zielinski
Musik: John Frizzell
Darsteller: Katie Holmes, Helen Mirren, Jeffrey Tambor, Barry Watson, Marisa Coughlan, Michael McKean, Molly Ringwald
FSK: 12

Die Screenshots wurden der DVD (C) 2004 Kinowelt Home Entertainment GmbH entnommen.

Dr. Wily
Dr. Wily mag das Alte. Selbst aktuellen Entwicklungen in Musik, Film, Literatur und Computerspiel gibt er oft Monate bis Jahre Zeit, um sich von ihnen einnehmen zu lassen. Mit zunehmendem Lebensalter zieht es ihn vermehrt zu Horror- und Mysterygeschichten hin, nur um sich dann seine Seele doch wieder von Richard Linklater, Jim Jarmusch, Jack Kerouac, Jackson Browne, Paul Simon oder J.D. Salinger streicheln zu lassen. Außerdem kann er nach 15 Jahren Spielpause MEGA MAN 2 aus dem Stand bis ins vorletzte Level durchspielen.

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