Die Generation junger Soldaten, die wir zu Beginn des Films bei der patriotischen Rekrutierungsrede eines eifrigen Schullehrers kennengelernt haben, ist schon fast vollständig den verschiedenen Schrecken des Krieges zum Opfer gefallen, als Paul für einen kurzen Urlaub nach Hause kommt. Längst nicht mehr der idealistische Abenteurer wie noch vor seinem freiwilligen Dienst, besucht Paul auch seine alte Schule und hört dort dieselben flammenden Worte desselben Lehrers – nur die neuen potentiellen Rekruten scheinen diesmal noch jünger geworden zu sein. Als Paul in die Kriegsbegeisterung des Redners einstimmen soll, wehrt er ab und will die Jugendlichen vor dem Kriegsdienst warnen. Er wird dafür als Feigling ausgebuht. Pauls Ohnmacht gehört zu den beklemmendsten Momenten des Films: Als einziger, der die Wirklichkeit des Krieges erlebt hat, kann er doch niemandem davon erzählen – zu verblendet ist sein Umfeld im Eifer der vermeintlichen Pflicht.
Lewis Milestones ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT, das auf Erich Maria Remarques Antikriegsroman IM WESTEN NICHTS NEUES basiert, steckt voll von solch kraftvollen Szenen, die zusammen ein Kaleidoskop des Kriegswahnsinns bilden. Die Geschichte ist auf deutscher Seite im Ersten Weltkrieg angesiedelt, dem „Krieg zum Ende aller Kriege“, aber sie könnte überall stattfinden: Wir sehen Verwundete, deren Gliedmaßen amputiert werden müssen, und notdürftig eingerichtete Lazarette, in denen die Soldaten aufgrund mangelnder ärztlicher Betreuung wegsterben. Wir sehen brutale Schlachten und nicht enden wollende Tötungsorgien. Wir sehen die Klaustrophobie in den Barracken der Schützengräben, in denen die Männer durch den dauernden Bombenhagel teilweise einfach verschüttet zu werden drohen. Die jungen Soldaten werden durch einen sadistischen Ausbilder durch den Schlamm geschickt. Es herrschen Hunger und Elend an der Front. Und nach und nach erwischt es jeden der Jungs, die wir zu Beginn noch so optimistisch gesehen haben.
Viele dieser Sequenzen wären auch als alleinstehende Kurzfilme bemerkenswert. An einer Stelle nimmt einer der Soldaten Deckung in einem Bombenkrater auf dem Schlachtfeld zwischen den Schützengräben. Ein feindlicher Soldat greift ihn an, aber er kann ihn mit seinem Bajonett tödlich verwunden. Dann muß er aber die ganze Nacht neben dem Sterbenden ausharren, weil das Feuergefecht zu intensiv ist. Er versorgt den Mann mit Wasser, aber schreit ihn wenige Momente später an, daß er doch endlich sterben soll. Nachdem der Verwundete verblutet ist, fleht der andere ihn an, ihm zu vergeben, und verspricht, die Familie des Mannes zu informieren. Es wird nicht das einzige Mal bleiben, daß in dem Film jemand mit einem Toten spricht.
Die beeindruckendste dieser Szenen ist eine fast siebenminütige Schlachtsequenz, deren Inszenierung das moderne Actionkino um Jahrzehnte vorwegzunehmen scheint. In rasanten Schnitten werden wir mitten in das Kampfgeschehen gesetzt; aus Bodensicht sehen wir die schwarzen Umrisse von feindlichen Soldaten auf uns zustürmen, in schnell aufeinanderfolgenden Einzelshots gehen getroffene Soldaten nieder oder werden durch Granaten zerfetzt – in einer morbiden Einstellung sehen wir nach einer Explosion noch die abgetrennten Hände eines Soldaten am Stacheldraht hängen. Die Kamera blickt über die Schulter der Männer am Maschinengewehr auf die heranrückenden Feinde, dann fegt sie in einer rasanten seitlichen Fahrt den Schützengraben entlang, als wäre sie selber das Gewehr, das die feindlichen Männer niedermäht. Als der Feind den Schützengraben erreicht, löst sich die klare Geographie der von links nach rechts anrückenden Soldaten und der von rechts nach links in Verteidigung schießenden Männer der anderen Seite auf – plötzlich scheint der Feind überall zu sein, er kommt von links und rechts, springt uns entgegen. Die schnelle Schnittfrequenz, die ständige Bewegung der Kamera und die Brutalität des Gezeigten scheinen nicht aus einem Film des Jahrgangs 1930 zu stammen und besitzen selbst heute noch eine unglaubliche Kraft – man kann von dieser Sequenz eine direkte Linie zur Normandieszene von Steven Spielbergs DER SOLDAT JAMES RYAN ziehen.
Allerdings bleibt ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT auch mehr oder weniger eine Sammlung aus einzelnen Sequenzen. Der Film versucht anfangs, die Schicksale einer ganzen Gruppe junger Männer nachzuzeichnen, die wir allerdings nur sehr bedingt als Individuen wahrnehmen – zu knapp werden sie eingeführt, zu wenig unterscheiden sie sich voneinander. Erst nach und nach schält sich Paul Bäumer als zentrale Figur heraus, aber durch die Erzählweise bleiben wir auch zu ihm in gewisser Distanz.
Natürlich paßt die Herangehensweise zum Krieg selbst, der die einzelnen Männer ihrer Individualität beraubt und vornehmlich in Zahlenstärke von ihnen Gebrauch macht. Paul und all die anderen jungen Männer sind Stellvertreter für jeden beliebigen anderen Soldaten, der denselben Kriegshorror durchleben muß und dabei feststellt, daß er dabei nicht als Mensch, sondern als Ressource gesehen wird. Diese Austauschbarkeit ist nirgendwo so spürbar wie in eben jener Szene, wo Paul in seine Schule zurückkehrt: Die leuchtenden Gesichter der patriotischen jungen Zuhörer sind genauso in Szene gesetzt wie anfangs die von Paul und seinen Freunden. „You still think it’s beautiful to die for your country. The first bombardment taught us better. When it comes to dying for country, it’s better not to die at all“, will Paul ihnen erklären, aber keiner hört ihm zu. Von der Realität des Krieges will niemand etwas wissen. Vielleicht ist das der Grund, warum es nie jenen Krieg geben wird, nach dem keine weiteren mehr folgen.
Im Westen nichts Neues (USA 1930)
Originaltitel: All Quiet on the Western Front
Regie: Lewis Milestone
Buch: George Abbott, Maxwell Anderson, Del Andrews, nach dem Roman von Erich Maria Remarque
Kamera: Arthur Edeson
Darsteller: Louis Wolheim, Lewis Ayres, John Wray, Arnold Lucy, Ben Alexander, Scott Kolk, Owen Davis Jr., Walter Browne Rogers