Im heutigen Close-Up will ich mir mal eine Sequenz vorknöpfen, die ich trotz üppiger Schauwerte nicht befriedigend inszeniert finde. In meinem Text zu Jan De Bonts LARA CROFT: TOMB RAIDER – DIE WIEGE DES LEBENS habe ich schon angedeutet, daß der Film spaßig und unterhaltsam ist, allerdings auch nicht wahnsinnig spannend oder involvierend. Eine der Sequenzen, auf die diese Beschreibung absolut zutrifft, ist die Skydiving-Szene, in der Lara Croft und ihr Freund auf der Flucht vor Til Schweiger und seinen Lakaien vom Dach eines Hochhauses springen – mit einem sogenannten „Wingsuit“, mit dem sie dann über die Dächer der Stadt fliegen und auf einem Schiff landen können.
Die Sequenz beginnt auf der deutschen DVD bei ca. 01:05:15. Kameramann ist David Tattersall. (Wie immer gilt: Ein kommentiertes Bild entspricht einer Einstellung. Wenn mehrere Bilder zusammengefaßt kommentiert werden, handelt es sich um eine Fahrt, einen Schwenk o.ä.)
Lara Croft (Angelina Jolie) und Terry Sheridan (Gerard Butler) sind vor den Schergen von Dr. Reiss auf das Dach eines Wolkenkratzers geflüchtet. Sie packen die beiden Wingsuits aus, die dort oben bereitstehen. Croft glaubt erst, daß es sich um einen Fallschirm handelt, aber er korrigiert: „Something a little faster„. Sie lacht, als sie erkennt, worum es sich handelt.
Sean (Til Schweiger) kommt mit seinen Lakaien mit dem Lift auf dem Dach an und schnauzt die Liftführerin an: „Come on, grandma!“ Die (Hand-)Kamera ist recht dicht vor der Gittertür und schwenkt mit dem ankommenden Fahrstuhl leicht nach oben und rechts mit.
In einer mit der Handkamera geführten Totalen sehen wir Sean und seine Leute aus dem Lift stürmen.
Die Handkamera schwenkt von Sheridans Füßen an ihm nach oben, dann während seines Dialogs mit Lara nach rechts zu ihr und wieder zurück zu ihm. Beide ziehen sich ihre Anzüge fertig an. Er sagt ihr: „Our rendezvous point is two and a half, maybe three miles.“ Sie antwortet: „You’re aware that no one’s ever gone further than one mile?“ Er erwidert: „I am now„. Die Einstellung packt die beiden (wie auch schon einige vorige Bilder) gut in einen räumlichen Kontext: Sie befinden sich sichtbar weit über den sonstigen Häusern der Stadt.
Sean kommt mit seinen Leuten um die Ecke gelaufen. „This way!“ Die Einstellung ist beinahe ganz statisch.
Wieder Handkamera: Wir schwenken von Sheridan nach links zu Croft. „Right, you go first„, sagt er. „No, you go first„, erwidert sie.
Drei der Schurken kommen näher. Die Kamera schwenkt mit ihnen nach rechts mit.
Sheridan schaut nach links (also zum rechten Bildrand), wo offenbar die drei Handlanger angelaufen kommen, dann in die andere Richtung.
Hier kommt Sean mit drei weiteren Männern angelaufen. Die Kamera schwenkt mit ihnen nach rechts. Sean schießt auf Croft und Sheridan.
Hinter den beiden treffen die Kugeln auf das Baugerüst. „I’ll go first!„, ruft sie, und beide laufen gleichzeitig los. Die Kamera geht nach links mit ihnen mit.
Halten wir mal einen Moment inne, um über die Geographie der einzelnen Shots zu reden. In den drei Einstellungen, die wir von den heranlaufenden Schurken sehen, wird zwar klar, daß die Burschen näher kommen, aber wir wissen nicht, wo wir diese Orte im Verhältnis zu unseren Helden verstehen sollen. Offenbar gibt es zwei Wege zu dem Punkt, wo die beiden stehen – deswegen kommen drei von der einen Seite angelaufen und vier von der anderen. Da wir die Orte nur rudimentär im Kopf zusammenfügen können, bleibt z.B. die Entfernung der einzelnen Positionen unklar, und damit wird auch die Relation der einzelnen Einstellungen zueinander schwammig.
Kurioser ist aber noch die Tatsache, daß die Schüsse von Sean *hinter* den beiden einschlagen. Beim Anziehen der Wingsuits haben wir gesehen, daß die beiden am Rand des Wolkenkratzers stehen. Vor dem Sprung haben sich beide (für uns nicht sichtbar) umgedreht, weshalb jetzt der Rand vor ihnen liegen muß. Sean kann also nicht vor ihnen stehen; er könnte bestenfalls schräg seitlich schießen – aber auch da würde er eigentlich in der Luft stehen. Da er zuvor an einer Ecke gezeigt wurde, müßte er sich eigentlich hinter den beiden befinden, d.h. die Kugeln müßten in Richtung der Kamera fliegen.
Die drei Männer von der einen Seite kommen jetzt ebenfalls in Schußreichweite; die Kamera schwenkt nach rechts mit ihrer Ankunft mit.
Offenbar kommen die drei aber doch nicht aus der anderen Richtung wie Sean – sie zielen nämlich ebenfalls zum rechten Bildrand (beziehungsweise: zwei zielen seitlich, der mittlere zielt eher in Richtung der Kamera – was eher richtig zu sein scheint).
In einer seitlichen, statischen Perspektive sehen wir Croft und Sheridan (ab hier offenkundig zwei Stuntdoubles) auf den Rand des Wolkenkratzers zulaufen, um zu springen. An der Säule hinter ihnen sowie am Gerüst rechts prallen weitere Schüsse ab – es müßten die von Sean und seinen Mannen sein.
Wir sehen hier, daß es links von den beiden ebenfalls abwärts geht – auch Sheridans Blick nach links in der obigen Einstellung und der dazugehörige Shot mit den heranlaufenden drei Männern paßt also nicht hundertprozentig zur Geographie der Szene.
Wir sehen beide in einer spektakulären Einstellung in die Tiefe springen. Die Kamera schwenkt mit ihnen nach unten mit – es wirkt fast so, als würde sie mit ihnen herunterfallen.
In einer sehr weit entfernten Einstellung sehen wir die beiden weiter nach unten fallen. Die Kamera schwenkt mit ihnen in die Tiefe. Das links auftauchende nähere Hochhaus macht noch einmal klar, wieviel höher der Wolkenkratzer ist, von dem Croft und Sheridan gesprungen sind.
Die Kamera fährt an Sean und seine Mannen heran und schwenkt dabei nach rechts. „Holy cow!“, sagt er verblüfft, dann winkt er in einem netten Gag seinen Lakaien zu: „Follow her„.
Man beachte, daß alle immer noch in die Richtung schauen, in die sie auch geschossen haben – sprich: dorthin, wo Croft und Sheridan standen. Ich denke, gleich nach dem Sprung (also nach der Einstellung direkt hinter den beiden) hätte diese Reaktion besser gepaßt.
Zwei von Seans Schergen überlegen verblüfft, ob die Anweisung „Follow her“ ernstgemeint war oder nicht.
In der Draufsicht sehen wir Croft und Sheridan weiter fallen, bis sie die Arme ausbreiten und durch die im Wingsuit angebrachten Flügel im Fall gebremst werden. Die Kamera schwenkt leicht nach links unten und versucht, die beiden mittig ins Bild zu kriegen.
Die Kamera schwenkt nach links mit dem Flug der beiden mit.
Nochmal ein Reaction Shot auf den frustrierten Sean – der offenbar immer noch auf die Stelle schaut, von wo aus beide gesprungen sind.
Die längste Einstellung der Szene: Wir sind seitlich neben Croft und Sheridan, die Kamera schwenkt weiter mit dem Flug mit und dreht sich nach und nach so, daß wir uns hinter ihnen befinden – und irgendwann wieder auf sie herunterblicken. Die beiden fliegen über verschiedene Teile der Stadt – Häuser, Bäume, Straßen, Parkplätze – bis sie irgendwann das Wasser erreichen. In einer netten (und vermutlich unbeabsichtigen) Symmetrie droht die Kamera die beiden Figuren einmal nach unten und später einmal nach oben aus dem Bild zu verlieren.
Jetzt wechseln wir die Perspektive und blicken nach oben zu den beiden. Erst öffnet einer seinen Fallschirm, dann der andere – die Kamera schwenkt zu der Person rechts im Bild (in der Entfernung ist nicht feststellbar, ob es Croft oder Sheridan ist), die beim Öffnen eine Art Salto macht.
Wir sehen ein Schiff auf dem Wasser, zu dem die beiden Personen am Fallschirm hinfliegen. Die Kamera bewegt sich in einer ganz leichten Kreisfahrt im Uhrzeigersinn fast unmerklich auf das Schiff zu. Mit dem durch die Sonne etwas diffusen und orangefarbenen Licht ist diese Einstellung wohl die schönste der Szene.
Die Kamera blickt vom Schiff aus zu Croft (jetzt wieder Angelina Jolie) und schwenkt mit ihr nach unten.
In einer näheren Einstellung legt Croft den letzten Meter des Falls zurück, landet sanft und marschiert vorwärts. Jemand ruft „Hi Terry!„, sie dreht den Kopf und strahlt.
Wir sehen in einer seitlichen Einstellung einen Mann angelaufen kommen, links folgt ihm ein zweiter. „Good to see you!„, ruft er. Die Kamera schwenkt nach rechts mit seiner Bewegung mit.
Jetzt landet auch Sheridan. Wieder schwenkt die Kamera mit seinem letzten Fallmoment mit. Crofts Kopf kommt dabei auch ins Bild.
Die Figuren auf dem Frachters gehen über das Deck nach innen. In einem großen Schwenk aus einem Helikopter heraus entfernt sich die Kamera und kreist weiter im Uhrzeigersinn um das Boot, bis wir im Hintergrund wieder die Skyline gegen die Abenddämmerung sehen.
Ein Problem der Szene, nämlich das der fahrigen Geographie der einzelnen Bilder, haben wir in der Bild-für-Bild-Analyse jetzt schon gesehen. Wobei das nicht zwangsläufig einen Beinbruch für die Sequenz darstellt: Die Szene funktioniert durchaus. Dennoch möchte ich noch ein paar weitere Gedanken anschneiden, warum die Sequenz zwar schön aussieht, aber nicht sehr packend ist.
De Bont kommentiert selber ein Problem der Szene in einem Interview mit Ain’t It Cool News:
Like the sky flying sequence in TOMB RAIDER 2 in Hong Kong, where these two guys jumped from a building – this is the third highest building in the world – and they are *flying* in these special suits over Hong Kong for a couple of miles… and then we landed them onto a moving freighter. Normally that would be all visual effects, special effects, bluscreen… we shot it all for real. It is the most spectacular scene, and I didn’t even use many cuts. I used… very long-lasting shots, and it made it so much more spectacular. The only funny thing is that, we as audiences, we think that because everything is possible that everything is now special effects. And us filmmakers, we have a little bit of a problem area that when they see the sequence, which is all real and quite unbelievable, they think this, of course, is a visual effect, and that those people were never flying. So we’re kind of working to fight what audiences think that this might be. We created this world of CGI, and it was kind of detrimental to the degree that audiences automatically think that this is a visual effects stunt, and it’s not.
Ich denke, der Knackpunkt liegt aber woanders: Wir sehen zwei Stuntleuten bei einem beeindruckenden Stunt zu. De Bont betont an vielen Stellen, wie wichtig es ist, die Schauspieler möglichst selber Stunts ausführen zu lassen oder mit den Effekten ins Bild zu rücken, um die Sequenzen realistischer zu gestalten – hier haben wir eine lange Szene, in der ganz eindeutig ein Stunt vollzogen wird, während die Darsteller Pause haben. Natürlich hätte De Bont Jolie und Butler nicht tatsächlich vom Hochhaus springen lassen können – aber vermutlich hätte mehr Effektarbeit die Szene tatsächlich wirklicher gestaltet: Wenn wir zwischendurch Jolie und Butler sehen würden – in Nahaufnahmen, die den Eindruck des Fliegens vermitteln, oder in Computertricks, bei denen wir das Gefühl kriegen, daß die Charaktere tatsächlich über der Stadt fliegen – dann wäre die Szene nicht etwas, das gefühlt nicht viel mit unseren Helden zu tun hat.
Ein Vergleich mit einer anderen Wingsuit-Szene zeigt noch einen anderen Haken: In Michael Bays TRANSFORMERS 3 springt eine militärische Einheit in solchen Anzügen über Chicago ab, während die Stadt von den Decepticons angegriffen wird. Die Burschen werden von den Robotern verfolgt und beschossen und drohen immer wieder, gegen Wolkenkratzer zu stürzen oder an engen Stellen hängenzubleiben. Sprich: Die Szene dort birgt eine Gefahr in sich. In TOMB RAIDER 2 ist der Sprung mühelos, eine entspannende Sightseeing-Tour über der Kulisse von Hong Kong. Wieso stürzen Sean und seine Mannen nicht zumindest anfangs an den Rand des Wolkenkratzers und schießen auf Croft und Sheridan? Wieso segeln die beiden mit dem Können jahrelanger Profis problemlos und koordiniert durch die Lüfte und landen geschmeidig auf einem Frachter, ohne mit der Wimper zu zucken? Wieso wird anfangs die Info eingeführt, daß noch nie jemand so weit geflogen ist, wenn diese Herausforderung dann doch nie ins Gewicht fällt? Kurzum: Die Szene ist schön, aber dramatisch keine Spur ausgekostet.
Und da kommen wir noch zu einem Punkt, den ich auch schon im Text zum Film angeschnitten habe: Croft meistert einfach jede Situation ohne Schwierigkeiten und nimmt die Gefahr stets auf die leichte Schulter. Das macht sie zwar cool, aber nicht sehr menschlich – und deswegen zittert man auch nie mit ihr mit, wie man es bei vergleichbaren Helden tut, die zwar letztlich auch alles überstehen, aber dafür über sich selber hinauswachsen müssen. Wir sehen in der obigen Sequenz, wie der Wingsuit sie zum Lachen bringt – das nimmt dem Sensationellen doch schon gleich die Ungeheuerlichkeit. Auch gleich nach der Landung strahlt sie fröhlich in Richtung Zuseher. Da wir dazwischen auch keine Schwierigkeiten präsentiert bekommen haben, besteht für uns als Zuschauer auch wenig Anlaß, Adrenalin zu produzieren.
Mich als Fan des Sportgenres stört eigentlich nur, dass die beiden in der Absprungszene ganz offensichtlich einen Tracksuit und keinen Wingsuit tragen.