In meinem Text zu Stanley Kubricks Horrorfilm THE SHINING habe ich angemerkt, daß der Film wie ein Puzzle funktioniert, das auf verschiedene Weisen zusammengesetzt werden kann – und biete dazu selber eine Bedeutung an, die ich jenseits der gezeigten Geistergeschichte wahrnehme: Ich sehe unter der Story um einen Winterhausmeister, der in einem über Monate hinweg eingeschneiten Hotel wahnsinnig wird und seine Familie umzubringen droht, eine Reflexion von familiärer Gewalt und Kontrollphantasien. Das ist keine wirklich gewagte Deutung – der Film bietet genug Elemente an, die diese Themen widerspiegeln. Und doch reihe ich mich mit exakt dieser letzten Behauptung in die Gruppe von SHINING-Exegetikern ein, die Kubricks Werk in Rodney Aschers Filmessay ROOM 237 mit höchst eigenwilligen Beobachtungen und Auslegungen bedenken und dafür Unmengen an Hinweisen aufdecken.
Da hätten wir zum Beispiel einen SHINING-Sachverständigen, der den Film als Parabel auf den Holocaust ansieht. Zentrales Motiv dafür ist für ihn die Schreibmaschine aus deutscher Manufaktur – und zwar von der Firma Adler, wobei der Adler ja von den Nazis als Symbol verwendet wurde. Außerdem ist die Zahl 42 mehrfach im Film zu finden – zum Beispiel auf Dannys Shirt, oder als Teil eines Nummernschildes – und das verweist auf das Jahr 1942, in dem der industrialisierte Völkermord begann. Die These: Weil der Tod von Millionen von Menschen emotional kaum greifbar zu machen ist, nimmt der Film stellvertretend einzelne Figuren, um deren Leben wir bangen. Immerhin wissen wir ja auch, daß Kubrick lange Zeit ein Filmprojekt verfolgte, das sich um den Holocaust dreht.
Etwas offensichtlicher funktioniert die Theorie, daß es in SHINING um den Mord an den Indianern geht. Der Leiter des Hotels sagt ja sogar am Anfang, daß das Gebäude auf einem alten Indianerfriedhof gebaut wurde (nur zwei Jahre nach SHINING war exakt dieses Motiv in POLTERGEIST Grund für die übernatürlichen Erscheinungen). An diversen Stellen des Hotels sind Bilder und Wandteppiche zu sehen, die mit den Indianern in Verbindung gebracht werden können oder sogar Indianer zeigen. Hinter dem Koch des Hotels ist in einem Regal eine Büchse Calumet-Backpulver zu sehen – auf der Büchse das Bild eines Indianerhäuptlings, der Name selbst das indianische Wort für „Friedenspfeife“. Wenn der Fahrstuhl des Hotels später literweise Blut ausspuckt, liegt das daran, daß der Schacht ja auch in die Erde gehen muß – die metaphorisch und buchstäblich mit dem Blut der Indianer getränkt ist.
Andere Kommentatoren untersuchen die Architektur des Hotels und stoßen auf Fenster, wo eigentlich keine sein dürften, und andere Ungereimtheiten in der Geographie. Zufall oder Absicht? An einer Stelle wird über einen Stuhl gerätselt, der im Hintergrund zu sehen ist und in der nächsten Einstellung fehlt. Es könnte sich um einen einfachen Continuity-Fehler handeln – aber vielleicht, so wird erläutert, hat Kubrick ihn auch bewußt verschwinden lassen, um Horrorfilmklischees zu parodieren. Diese Mutmaßungen über Absichten und Intentionen sind bezeichnend für viele Lesarten, und stets wird Kubricks Perfektionismus als Stütze angeführt: Bei einem so detailversessenen Filmemacher, der Einstellungen über 100 Mal drehen ließ, bis alles zu seiner Zufriedenheit war, kann immer eingeräumt werden, daß das, was wir wahrnehmen, Absicht war.
Die Frage nach der Absicht führt uns natürlich zu einer großen Falle in der Deutung des Films (und natürlich auch jedes anderen Werkes): Sie beschränkt Bedeutungen auf das, was vom Künstler intendiert war, und gibt ihm gleichzeitig eine Allmacht über jeden Aspekt des Objekts. Gerade beim Film ist das natürlich Illusion: Selbst ein Perfektionist wie Kubrick kann nicht über den Zufall herrschen, und auch auf die Realität kann er nur eingeschränkt Einfluß nehmen. Ein SHINING-Spezialist führt in ROOM 237 Kubricks Interesse an unterschwelligen Bildern an und sieht in einer Wolkenformation am Anfang des Films – an genau der Stelle, wo Kubricks Name im Vorspann erscheint – das Gesicht des Regisseurs. Abgesehen davon, daß selbst angestrengtes Hinsehen kein solches Gesicht offenbart, wäre die interessante Frage dahinter wohl die, wie es Kubrick im Zeitalter ohne digitale Bildbearbeitung geschafft hätte, die Wolken am Himmel nach seinem Wunsch zu formen.
Nein, die Absicht des Machers spielt bei der Analyse nicht zwangsläufig eine Rolle – wie auch einer der Kommentatoren in ROOM 237 anmerkt. Was im Werk wahrnehmbar ist, ist da – ob es nun beabsichtigt war oder nicht. Immerhin kann ein Kunstwerk auch für seinen Schöpfer noch Überraschungen bieten – seien es Muster, derer er sich nicht bewußt war, oder Bedeutungen, an die er selber gar nicht gedacht hat.
Dennoch ist es nur natürlich, gewisse Lesarten eher als abstrus zu werten. ROOM 237 bietet zu all seinen ohnehin schon merkwürdigen Theorien eine SHINING-Analyse, die beinahe schon brilliant absurd ist: Der Film behandelt angeblich die Erfahrungen, die Kubrick machte, als er für die NASA Aufnahmen für die Apollo-Mondlandung fälschte. Laut Jay Weidner, dem Vertreter dieser These (Weidner hat sogar eine eigene Doku zu diesem Thema gemacht), war Kubricks Film 2001 eigentlich nur eine Begleiterscheinung oder vielleicht sogar eine Vertuschung eines Forschungsprojekts, bei dem der Regisseur Technologien und Möglichkeiten untersuchte, um möglichst echt Studiobilder einer Mondlandung herstellen zu können. (Interessanterweise glaubt Weidner, daß wir tatsächlich auf dem Mond waren – er behauptet nur, daß die Aufnahmen davon nicht echt sind.) Und weil dieses Unterfangen natürlich absolutes Stillschweigen erforderte, fand Kubrick ein Vehikel, mit dem er diese Verschwörung ansprechen konnte: Den Film THE SHINING.
Die codierte Beichte des Filmemachers beginnt natürlich einmal damit, daß Danny in einer Szenen einen Pullover trägt, auf dem die Apollo-11-Rakete zu sehen ist. Aber da fängt die Spurensuche erst an: Das Teppichmuster unter ihm ähnelt der Abschußrampe des Apollo-Projekts. Der (indianische!) Wandteppich, gegen den Jack seinen Tennisball wirft, zeigt ein Muster, das wie eine Reihe von Raketen aussieht. Und dann ist da das mysteriöse Zimmer 237 – eine Zahl, die für den Film geändert wurde; in Kings Romanvorlage handelt es sich noch um Zimmer 217. Ganz klar: Der Mond ist 237.000 Meilen von der Erde entfernt. Auf dem Schlüsselanhänger zu Zimmer 237 stehen die Worte „ROOM No 237“, und aus den Großbuchstaben kann man die Worte „room“ und „moon“ bilden – Zimmer 237 ist also der „moon room“. (Hämische Internetkommentatoren weisen darauf hin, daß man aus den Buchstaben auch das Wort „moron“, englisch für „Idiot“, ableiten kann.) Und wenn Jack seine Frau Wendy bedroht und ihr etwas von Verantwortungen und Verträgen erzählt, ist das laut Weidner eine Version des Gesprächs, das stattgefunden haben muß, als Kubricks Frau von dem Apollo-Geheimprojekt erfuhr.
Natürlich ist das Humbug. Aber es geht in ROOM 237 eigentlich gar nicht darum, ob die angebotenen Theorien stimmen oder nicht – sie müssen es gar nicht, und im post-modernen Sinne gäbe es gar keine falschen Lesarten. Vielmehr geht es darum, wie der individuelle Zuseher Teil des Werkes und Teil seiner Bedeutung ist: Wir sind es, die den Werken ihre Bedeutung geben. Das tun wir in Zusammenarbeit mit dem Werk – und manchmal, wie im Falle der hier sprechenden SHINING-Spezialisten, übernehmen wir eben den Großteil dieser Arbeit. Es ist bezeichnend, daß die Sprecher mehr als einmal darauf hinweisen, wie sie zunächst von dem Film enttäuscht waren, bis ihnen dann bei wiederholtem Ansehen ein Licht aufging – mit ihren Interpretationen haben sich diese Zuseher den Film zueigen gemacht, sie haben ihn gewissermaßen personalisiert. „It is a masterpiece – but not for the reasons that most people think“, sagt einer der Interviewpartner, der SHINING zunächst gar nicht mochte. Er mußte sich offenbar erst einen persönlichen Zugang zum Film schaffen und ihn mit seinen eigenen Interessen und Ansichten in Einklang bringen.
Das ist eigentlich gar kein unüblicher Prozeß: Wir alle haben Filme, denen wir eine mehr oder wenige private Bedeutung zumessen. Die wundervollen Filme meiner Kindheit und meiner Jugend sind so besonders, weil sie mich geprägt haben – die Bedeutung, die ich ihnen beimesse, liegt in meiner Biographie. Und wir alle haben Werke – Filme, Bücher, Musik, Bilder, was auch immer – die uns auf gewisse Art und Weise inspiriert haben. Wenn ein Buch bestimmte Handlungen oder Entwicklungen in mir hervorruft, hat das Buch freilich etwas damit zu tun – aber wenn ich als Person in diesem Prozeß irrelevant wäre, würde das Buch bei jedem Menschen dasselbe bewirken.
Letztlich liegt darin ja auch eine der fantastischen Möglichkeiten der Kunst: Wenn ich finde, daß in einem Werk ein Thema verhandelt wird, das mich interessiert oder mir wichtig ist, dann wird es das auch. Nicht umsonst finden Menschen religiöse Bedeutung in UND TÄGLICH GRÜSST DAS MURMELTIER (der als Läuterungsgeschichte funktioniert), lernen Lebenslektionen aus dem KRIEG DER STERNE oder sehen James Whales FRANKENSTEIN (aufgrund der Biographie seines Regisseurs und dem Thema der Andersartigkeit) als Parallele zur Stigmatisierung Homosexueller. Warum kann THE SHINING also kein Mahnmal darüber sein, wie Amerika auf dem Blut der Indianer gebaut wurde?
Das Problem der hier angebotenen Thesen liegt eigentlich weniger in den Beobachtungen – immerhin untermauern alle Sprecher ihre Theorien mit Elementen des Films, auch wenn (wie z.B. im Falle des Wolkenbildes) die Beweislage nicht immer überzeugen kann. Es liegt vielmehr in der Behauptung, daß es sich hierbei jeweils um das „tatsächliche“ Thema, die „wirkliche“ Bedeutung des Films handelt. Sie verdrängen quasi die anderen möglichen Inhalte. Als thematische Textur genommen ist die Indianer-Theorie durchaus interessant – immerhin wird in SHINING oft genug das Thema der Vergangenheit angesprochen und auch gesagt, daß Orte schreckliche Ereignisse „speichern“. Aber als Hauptidee hat der Gedanke viel zu wenig Tragkraft, seine Beweisführung muß sich zu sehr auf winzigste Details oder sehr vage Assoziationen stützen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß ein Film, in dem sich ein Mann nicht nur in einem tatsächlichen, sondern auch in einem psychologischen Labyrinth verirrt, manche Zuseher auch auf ähnliche Reisen zu schicken scheint: Je länger und detaillierter man sich diesem Werk widmet, umso mehr verliert man offenbar den Blick für das Gesamtbild. Und so wie Jack Torrence seine Umgebung vergeblich zu kontrollieren versucht, bemühen sich auch die Sprecher darum, den Film gewissermaßen in den Griff zu kriegen. Aber eigentlich ist es kein Wunder, daß ein Filmemacher mit so ausgeprägten Obesssionen auch Zuseher mit ähnlich ausgeprägter Detailversessenheit anzieht.
In der Psychologie gibt es das Konzept des „Bestätigungsfehlers“ (englisch: „confirmation bias“). Es besagt, daß wir Dinge wahrnehmen, die zu dem passen, was wir schon glauben oder erwarten, und andere Informationen ignorieren. Wenn ich also beispielsweise SHINING nach Elementen abklopfe, die etwas mit dem zweiten Weltkrieg zu tun haben, finde ich sie auch – und ignoriere solche, die das nicht tun. So funktioniert das menschliche Gehirn nun mal. In Bezug auf die Kunst gesehen ist exakt dieser Vorgang wohl unser Zimmer 237: Wir sehen, was wir sehen wollen.
Room 237 (USA 2012)
Regie: Rodney Ascher
Musik: William Hutson & Jonathan Snipes
Sprecher: Bill Blakemore, Geoffrey Cocks, Juli Kearns, John Fell Ryan, Jay Weidner
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