In meinem Text über Peter Medaks großartigen Geisterhorror DAS GRAUEN habe ich unter anderem darüber gesprochen, wie Medak zusammen mit seinem Kameramann John Coquillon stets eine gewisse Präsenz im von der Hauptfigur bewohnten Haus suggeriert und dabei die tatsächlichen übernatürlichen Erscheinungen ganz gering hält, aber dafür umso effektiver gestaltet. Schauen wir uns doch mal eine Szene im Detail an – und zwar die im Text erwähnte Sequenz mit dem plötzlichen Auftauchen des Spielballs, der der verstorbenen Tochter unseres Protagonisten gehörte.
(Jedes Bild zeigt eine Einstellung – wenn zwei oder drei Bilder direkt untereinander stehen und dann erst kommentiert werden, zeigen sie eine bewegte Einstellung, also z.B. eine Fahrt oder einen Schwenk.)
Die Sequenz beginnt mit einer Nahaufnahme auf ein Photoalbum, durch das unsere Hauptfigur John (George C. Scott) blättert. Die Kamera zoomt langsam heraus, bis wir über Johns Schulter auf die Bilder sehen. Die einzelnen Photos zeigen Johns verstorbene Frau und Tochter, mit deren Tod er sich noch nicht arrangiert hat. (Scott fügt eine wundervolle kleine Geste hinzu, als er kurz mit den Fingern über eines der Photos streicht – ganz sanft und nicht ganz ausgeführt, aber doch wahrnehmbar.)
Während John blättert, hört er ein dumpfes Klopfen im Haus und blickt auf. Man beachte, wie die niedrige Kameraposition eine gewisse Spannung im Bild erzeugt, und wie die Ränder des Bilds trotz der Lampe ins Dunkle führen – die finsteren Ecken und Ränder regen natürlich immer die Phantasie an.
Die Kamera ist jetzt außerhalb des Zimmers und sehr nah am Boden positioniert – als würde etwas John beobachten. Das Geländer links deutet schon an, woher das rhythmische Geräusch kommt: Offenbar fällt etwas die Treppe herunter. Das tut es auch – und zwar hüpft ein roter Ball ins Bild, der unten langsam ausrollt und vor dem Durchgang zum Zimmer liegenbleibt. John steht auf und geht bis zum Ball, den er dann aufhebt –
– es ist der Ball seiner verstorbenen Tochter, den wir schon zweimal zuvor im Film gesehen haben und somit zuordnen können. In dieser Einstellung können wir einen Blick ins obere Stockwerk erhaschen, aus dem der Ball kam – und auch wenn nichts zu sehen ist und in der Mitte das Bild ohnehin ins Dunkle führt, deutet die Kamera in genau die Richtung, von der wir wissen, daß sich dort etwas (oder jemand) befinden muß.
John blickt die Treppe hoch, und wir sehen in einem POV den Weg zum oberen Stockwerk. Nichts zu sehen – aber die Tatsache, daß alles jenseits der Treppe im Finstern liegt, beruhigt uns keinesfalls.
Die Einstellung von vorhin wird weitergeführt: Nachdem John oben nichts sieht, geht er ins Zimmer zurück – zu der Truhe, in der er den Ball sonst aufbewahrt (wie wir in einer vorigen Szene gesehen haben).
John öffnet die Truhe, aber der Ball ist nicht darin.
Wir stehen kurz neben John, der jetzt überlegt, was er tun könnte – und die Szene schneidet schnell zu …
… einer Außeneinstellung, in der John mit dem Auto auf einer Brücke hält, aussteigt, und sich dann ans Geländer stellt – die Kamera schwenkt dabei erst mit dem Auto leicht nach rechts, dann mit John nach links zum Geländer. Er zieht den Ball aus der Manteltasche und lehnt sich an das Geländer.
In einer Nahaufnahme sehen wir, wie er den Ball langsam losläßt – keine leichte Entscheidung für ihn, nachdem er den Tod seiner Tochter noch nicht wirklich verarbeitet hat. Man beachte, wie der rote Ball farblich aus den ansonsten in herbstlichen braun-grau-Tönen gehaltenen Bildern heraussticht.
Von unten sehen wir zu John herauf, der dem Ball nachsieht – in einer Einstellung, die, obwohl sie ganz statisch ist und eher auf Höhe des Brückenbodens als auf Höhe des Wassers liegt, so wirkt, als würde ihm jemand von unten zusehen.
Nach schnellem Schnitt kommt John wieder zuhause an. Die Kamera fährt vor ihm her und schwenkt dann mit ihm nach links, von der Eingangstür weg bis zum Treppengeländer, auf das John seinen Mantel hängt. Dann hört er wieder ein Geräusch von oben. Es ist das erste Mal in der Szene – abgesehen vom Herauszoomen am Anfang und dem Schwenk auf der Brücke – daß sich die Kamera wirklich bewegt. Es wird also angedeutet, daß das Wegwerfen des Balls etwas in Bewegung gesetzt hat …
… und prompt fällt von oben herab der Ball noch einmal die Treppe herunter! Die Perspektive dafür ist jetzt die von John, der Ball kommt also direkt auf uns zu – und wir sehen mit John nach oben, wo alles im Dunkeln verschwindet.
Der nächste Shot ist eine Art Gegenschuß: Wir blicken von oben die Treppe herunter und sehen, wie der Ball zu John kullert. Die Position der Kamera nimmt quasi den Standpunkt der im Haus lebenden Geisterpräsenz ein – auch wenn nichts zu sehen ist, suggeriert die Einstellung stärker als alle anderen, daß sich in den oberen Stockwerken etwas (oder jemand) befindet.
In einer Nahaufnahme weicht John zurück, bis er mit dem Rücken an der Tür steht. Die Kamera bewegt sich dabei nach rechts mit ihm mit bzw. auf ihn zu.
Eine schön dramatische Einstellung – vor allem im Kontrast zu der obigen seitlichen, wo im Vordergrund der Ball lag und John im Hintergrund saß bzw. stand. Hier ist der Ball sehr groß zu sehen und die Kamera blickt aus der Froschperspektive zu John hinauf.
Nochmal eine Nahaufnahme auf John, der mit seiner Furcht kämpft. Die Sequenz endet hier.
Die Szene kann stellvertretend für den ganzen Film gelten: Die stimmigen Farb- und Bildkompositionen ziehen sich durch die gesamte Laufzeit hindurch. Mit ganz einfachen Mitteln und sehr sorgsam komponierten Bildern beschwören Medak und Coquillon stets eine subtil spannende Atmosphäre herauf, in der immer wieder alleine durch den Blickwinkel der Kamera oder das sparsam gesetzte Licht gleichzeitig unsere Neugierde wie auch unsere Phantasie angeregt wird. Und gerade deswegen geht der Film umso stärker unter die Haut als die meisten Effektspektakel.
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