Als sein 16-jähriger Sohn Jesse die Schule hinwerfen will, geht sein Vater einen eigenwilligen Deal mit ihm ein: Der Junge darf abgehen, bleibt zuhause wohnen und muß nicht arbeiten gehen, wenn er nicht will. Die einzige Bedingung: Jesse muß mit seinem Vater drei Filme pro Woche schauen. Die Streifen wählt der Vater quer durch die Filmgeschichte aus und gibt seinem Sohn jeweils ein paar einleitende Worte – und über die nächsten drei Jahre, während Jesse seine Pubertätsprobleme bewältigt und nach und nach eine Perspektive für seine Zukunft gewinnt, dient der regelmäßige Filmabend als Sprungbrett für Vater-Sohn-Gespräche über Liebe, Leben und das Erwachsenwerden.
THE FILM CLUB (auf deutsch: UNSER ALLERBESTES JAHR – Unfug natürlich, weil die Geschichte einen längeren Zeitraum umfaßt) ist kein Roman, sondern eine autobiographische Nacherzählung, in der der kanadische Autor David Gilmour diese drei Jahre festhält. So zieht sich auch permanent die Ungewissenheit durch die Handlung: Tut er das Richtige für seinen Sohn? Sollte er vielleicht stärker eingreifen, oder mehr Druck auf den Jungen ausüben? Ruiniert sich Jesse durch den Schulabbruch vielleicht sein Leben? Und doch ist sich Gilmour sicher: Jesse hätte alles hingeworfen, ob sein Vater damit einverstanden gewesen wäre oder nicht – und der „Filmclub“ ist letzten Endes für Gilmour einfach nur ein Weg, eine Beziehung zu seinem Sohn aufrechtzuhalten und mit Jesse über das zu reden, was ihn beschäftigt. Gar nicht so selbstverständlich, wo sich doch Teenager als allerletztes mit ihren Problemen an die Eltern wenden.
So führt Gilmour seinem Sohn also die unterschiedlichsten Werke vor – cineastisch anspruchsvolle Filme der französichen Nouvelle Vague ebenso wie BASIC INSTINCT, ROCKY III ebenso wie Arbeiten von Werner Herzog oder Federico Fellini. Manchmal dienen die Inhalte als Anregung für Diskusionen über das alltägliche Leben, aber primär dienen die Filme dazu, daß Vater und Sohn überhaupt miteinander reden. Und das funktioniert: Nach und nach öffnet sich der Junge und läßt seinen Vater immer wieder in die Beziehungsprobleme blicken, die er mit einem Mädchen namens Rebecca Ng hat – eine perfekte Drama Queen, die mit Jesse spielt und ihn immer wieder auf unfaire Weise aus der Reserve locken will.
„I’m like that guy in Last Tango in Paris,“ Jesse said. „Wondering if his wife did the same things with the guy in the dressing gown downstairs that she did with him.“ I could feel him looking at me uncertainly, unsure whether to go on. „Do you think that’s true?“ he asked.
I knew what he was thiking about. „I don’t think there’s any point in thinking about that stuff,“ I said.
But he needed more. His eyes searched over my face as if he was looking for a very small dot. I remembered nights lying in bed and forcing myself to visualise the most pornographic images imaginable, Paula doing this, Paula doing that. I did it to blunt my nerve endings, to hurry to the finish line, to that point where I wouldn’t give a shit what she did with her fingers or what she put in her mouth.
„Getting over a woman has its own timetable, Jesse. It’s like growing your fingernails. You can do anything you want, pills, other girls, go to the gym, don’t go to the gym, drink, don’t drink, it doesn’t seem to matter. You don’t get to the other side one second faster.“
Durchzogen wird das Buch von den Informationen und Diskussionen über die
gesehenen Filme (die auch im Anhang alphabetisch sortiert aufgelistet
werden): Ob da nun eine Top 5 der Gründe eingeschoben wird, warum Jack
Nicholson ein brillanter Schauspieler ist, über Kubricks Perfektionismus
reflektiert wird oder die bizarrsten Momente von SHOWGIRLS besprochen
werden – im Buch wie in der Beziehung zwischen den beiden Figuren wird
der Rhythmus und das Fortschreiten der Zeit über die gesehenen Filme
vermittelt. Nicht jedem Film wird wahnsinnig viel Platz eingeräumt: Manche werden nur mit einem Absatz bedacht, andere etwas genauer besprochen. In jedem Fall scheint genug Liebe zur Materie durch, daß man auch selbst angeregt wird, das eine oder andere Werk endlich einmal zu sehen.
Weil die Geschichte echt ist, empören sich zahlreiche Hobbykritiker z.B. in den Amazon-Userrezensionen über Gilmours pädagogisches Unvermögen: Er hätte ganz anders agieren sollen, mehr Zeit mit seinem Sohn verbringen müssen, gescheitere Filme auswählen können, und und und. Irgendwo wird das Buch gar als Erziehungsratgeber verstanden und entsprechend verdammt. Dabei betont Gilmour selber immer wieder, wie viele Zweifel er die ganze Zeit über hatte – und auch wenn Jesse letzten Endes sein Leben auf die Reihe gekriegt hat und zu einem selbstbewußten jungen Mann herangewachsen ist, spricht sein Vater nicht an einer einzigen Stelle eine Empfehlung darüber aus, daß man bei Problemen mit seinen Kindern ähnlich wie er handeln sollte. Ein Reiz der Geschichte ist es gerade, über Gilmours ungewöhnlichen Ansatz nachzudenken und zu spekulieren – und letzten Endes mag man feststellen, daß seine Idee wirklich gar nicht dumm war: Anstatt seinem Sohn gegen dessen Willen alles mögliche überzustülpen, hat er einfach zugesehen, daß er die Beziehung zu ihm aufrechterhält – und das erweist sich als höchst wertvoll, wenn Jesse irgendwann zugibt, daß er mit seinen Freunden nicht so gut über seine Probleme reden kann wie mit seinem Vater, der dank seiner Lebenserfahrung durchaus kluge Ratschläge geben kann (und ehrlich genug ist, zuzugeben, daß man sich nicht immer an seine eigenen Ratschläge halten kann).
Für den Lesegenuß ist es aber letztlich völlig irrelevant, wie echt oder fiktiv die Geschichte eigentlich ist. THE FILM CLUB ist ein sehr klug beobachtetes Porträt einer ungewöhnlichen Vater-Sohn-Bindung, die sich unsentimental gibt und doch voller Herz steckt. Die Gespräche zwischen Jesse und Gilmour sind oft nur kurz angerissen, die Handlung ist stets auf den Punkt gebracht. Und inmitten der erzählerischen Leichtigkeit verstecken sich immer wieder präzise Momente der Lebenskenntnis.
„It’s just what I’ve been saying for the last year or so. Which is that important conversations are never best conducted when you’ve been drinking.“
Jesus, listen to me, I thought.
„But that’s the only time you really want to have them,“ he said.
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Sehr interessanter Tipp, danke dafür. Ist direkt auf die Besorgungsliste gewandert. Würde es auch gerne im Original lesen, da ich gerade "Do Androids dream about electric Sheep?" (Blade Runner) beendet habe. Ich nehme an die Sprache ist recht simpel, oder?
Freut mich, daß dein Interesse geweckt wurde! Berichte mir dann, wie dir das Buch gefallen hat. Ja, von der Sprache her stufe ich es als nicht allzu schwer ein – alles recht direkt und auf den Punkt gehalten. Die beiden kurzen Ausschnitte sind da recht repräsentativ.
So, jetzt habe ich es auch mal gelesen. Danke für diese Perle! Filme spielten jedoch eine geringere Rolle, als ich zunächst vermutete, war aber angesichts der interessanten Vater-Sohn-Gespräche überhaupt nicht schlimm. Ein paar Lebensweisheiten und Filmtipps konnte ich nebenbei auch noch für mich herausziehen.
Schön, daß es dir auch so gut gefallen hat! Ja, viele Filme werden recht flott abgehandelt – aber ich schätze, als Filmfreund ist man auch einfach eine andere Informationsmenge bzw. -dichte gewöhnt 🙂