Die Welt ist ein gefährlicher Ort, und ein menschliches Leben kann sehr schnell beendet sein. Terroristen, Naturkatastrophen, Versorgungsknappheit, Wirtschaftszusammenbrüche und ein mit all diesen Ereignissen verbundener Kollaps der sozialen Ordnung: Nicht nur die vergangenen Jahre haben gezeigt, daß immer wieder auf der Welt Notfälle eintreten, auf die die Menschen nicht ausreichend vorbereitet sind. In seinem Buch EMERGENCY (mit dem Untertitel „One Man’s Story of a Dangerous World and How to Stay Alive In It“) begibt sich Autor Neil Strauss auf die Spuren von Überlebenskünstlern – Menschen, die sich auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen auf eventuelle Katastrophen vorbereiten.
Da erwartet man zunächst einmal eine ganze Parade von Spinnern, die sich in Bunkern verschanzen und im Keller den Strahlenschutzanzug parathalten. Und da folgt gleich die erste Überraschung des Buches: Auch wenn manche der Leute, die Strauss trifft und von denen er sich Ratschläge holt, reichlich extrem sind – Strauss schafft es, ihre Motivationen und Ängste nachvollziehbar zu machen. Gleich zu Beginn, anläßlich der Neujahrsfeier beim Millenniumswechsel, stellt er selbst fest, wie viel die Weltuntergangsspinner und die Normalverbraucher doch gemeinsam haben: Auf der Neujahrsfeier ins Jahr 2000 im Weißen Haus trifft er auf ebenso viel Paranoia und Ängste eines Zusammenbruchs (z.B. durch den befürchteten Y2K-Systemcrash: Man glaubte, daß die Computer das Jahr 2000 nicht verarbeiten könnten und es deswegen große Zusammenbrüche z.B. in der Wirtschaft geben würde), wie man es von den Predigern erwarten würde, die für diesen Jahreswechsel einen Weltuntergang vorhergesagt haben (und, wie sich herausstellt, Sylvester friedlich zu Hause bei der Familie verbringen).
Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seit dem 11. September machen Strauss Angst: Plötzlich erscheint es gar nicht mehr so unwahrscheinlich, daß das System kollabieren könnte. Die Panik vor Anthrax greift um sich, der Staat setzt immer mehr Mittel ein, um seine Bürger zu kontrollieren, und nur wenige Jahre später zeigt Hurricane Katrina, daß im Katastrophenfall nicht mit Rettung seitens der Regierung zu rechnen ist. Strauss beschließt also, sich vorzubereiten, damit es in einem Ernstfall nicht zu spät ist. Die Logik dahinter ist ganz einfach: Man schließt Lebensversicherungen ab für den Fall, daß einem etwas zustößt – man rechnet nicht wirklich damit, aber man tut das, um abgesichert zu sein. Warum also nicht auch z.B. lernen, in der Wildnis zu überleben, um ebenso abgesichert zu sein?
Strauss‘ Odyssey durch die Welt der Überlebenskunst ist ebenso witzig wie ernsthaft faszinierend – weil einem immer wieder klar wird, wie sehr man von den Annehmlichkeiten der Gesellschaft abhängig ist. In einer Übung versucht er, drei Tage lang ohne Wasser oder Strom nur von dem zu leben, was er für den Notfall angesammelt hat – und sehnt sich schon bald nach dem Luxus einer Toilette. Einerseits macht er sich dabei zum ersten Mal in seinem Leben wirklich Gedanken über den Wert von Ressourcen – und andererseits stellt er schon nach kürzester Zeit eine immense Langeweile fest. Das Wasser zum Waschen seines Geschirrs klaut er kurzerhand aus dem Pool des Nachbarn – wo er sich auch heimlich wäscht.
Alles, was Strauss unternimmt, um sich auf einen Ernstfall vorzubereiten, zeigt ihm immer nur wieder, wie viele Lücken diese Vorbereitungen haben: Was ist, wenn er aus der Stadt heraus muß? Ein Motorrad muß her! Oder doch ein Helikopter? Was ist, wenn er das Land verlassen muß? Ein Flugzeug muß her – und am besten gleich ein Reisepaß mit einer zweiten Staatsbürgerschaft. Was ist, wenn der Weg zu seinem sicheren Rückzugsort zu weit ist? Es werden unterwegs Kisten mit Vorräten und Benzin vergraben. Was ist, wenn er zu Hause auf Rettung warten muß? Er hortet bergeweise Essen und Wasser. Was aber nun, wenn in einem Ernstfall der Mob versuchen würde, eben diese Vorräte zu plündern? Waffen müssen her. Irgendwann lernt er nicht nur Selbstverteidigung, sondern auch Waffenhandhabung, Überleben in der Wildnis, Spurenlesen, das Identifizieren von eßbaren Pflanzen, das Öffnen von Sicherheitsschlössern mit Haarnadeln sowie das Schlachten und Ausweiden eines Tieres. Später hat er ein Apartment auf St. Kitts mitsamt dazugehöriger Staatsbürgerschaft, und außerdem steht in seinem Garten eine Ziege – damit er sich selber mit Milch versorgen kann. Und natürlich ist keine Vorbereitung je genug.
Wo hören sinnvolle Vorbereitungen auf und wann fängt pure Paranoia an? EMERGENCY zeichnet wunderbar nach, wie jeder Schritt ganz einfach weitere Probleme nach sich zieht, gegen die man sich dann – nur für den Fall! – ebenso präventiv absichert. Vor allem lernt Strauss, daß er mit dem Wunsch nach Absicherung kaum alleine dasteht: Am Tag nach der Wiederwahl von George W. Bush verzeichnete die Einwanderungsbehörde von Neuseeland statt der üblichen sieben Anfragen aus den Staaten ganze 700, während ihre Webseite über 10.000 Klicks von US-Rechnern erhielt. In einem Erste-Hilfe-Kurs wird sogar darauf hingewiesen, daß man nicht auf Hilfe der Regierung warten soll, sondern sich selber helfen muß. Sehr unterhaltsam sind Strauss‘ Gespräche mit einem befreundeten Milliardär, der sich ganz eigene Überlegungen in Sachen Notfallplan macht: Man könnte doch eine Insel kaufen, und ein eigenes U-Boot gleich dazu, damit man im Ernstfall auch dorthin kommt!
Zum Schluß nimmt Strauss an verschiedenen Einsatz-Trainingskursen teil und wird Mitglied verschiedener freiwilliger Notfallorganisationen. Als er bei einem Zugunglück zusammen mit vielen anderen Freiwilligen helfen und verletzte und in Not geratene Menschen unterstützen kann, lernt er den wahren Wert all seiner Bemühungen kennen: Es ist witzlos, nur für sich selbst vorbereitet zu sein. Aber wenn man mit seiner Erfahrung in der Überlebenskunst hilflosen Menschen helfen und sie sogar retten kann, dann bereichern Vorsichtsmaßnahmen tatsächlich das Leben.
——————
4 8 15 16 23 42