Interviews sind eine spannende Sache. Zumindest theoretisch: Man erfährt im richtigen Moment und mit den richtigen Fragen eine ganze Menge darüber, wie die Leute so ticken – und je nach Gesprächspartner können die Antworten tiefschürfend, unterhaltsam, intelligent, sympathisch oder von all dem das exakte Gegenteil sein. Manche Interviews laufen einfach schief – sei es, daß der Interviewte gar nicht reden will (man denke an das legendäre „Interview“ mit Boxer Norbert Grupe, der mehrere Minuten lang einfach schwieg), nicht ganz klar im Kopf ist (da gibt es zum Beispiel ein bezeichnendes Visions-Interview mit Filter-Frontmann Richard Patrick, der offenbar high und ganz unironisch den Konflikt in Israel mit der Errichtung von McDonald’s-Restaurants und einem Disneyland-Park lösen will) oder schlichtweg auf dem falschen Fuß erwischt wird. Und dann bleibt noch die Frage, wie ehrlich die Antworten in so einer PR-Mühle sein können oder dürfen, wenn jeder Befragte stets brav zu Protokoll gibt, daß es sich beim aktuellen Album um das allerbeste der ganzen Karriere handelt und daß am Set alle unglaublich nett waren und jeder viel Spaß hatte.
Neil Strauss ist als altgedienter Rockjournalist mit so ziemlich jeder Interviewsituation vertraut. Der Autor, der nicht nur für den Rolling Stone und die New York Times schreibt, sondern auch als Co-Autor die Autobiographien von Marilyn Manson, Mötley Crüe, Jenna Jameson und Dave Navarro in Form brachte – von seinem faszinierenden Einstieg in die Welt der Pick-Up Artists ganz zu schweigen, die er in dem Bestseller THE GAME festhielt – hat schon mit so ziemlich jedem geredet, der Rang und Namen in der Entertainment-Welt hat, und darüber hinaus noch mit diversen interessanten, schrägen, vergessenen oder einflußreichen Randfiguren. Für sein neues Buch EVERYONE LOVES YOU WHEN YOU’RE DEAD AND OTHER THINGS I’VE LEARNED FROM FAMOUS PEOPLE hat Strauss tief in seinem Interviewarchiv gegraben: Auf über 500 Seiten zeigt er Interviewmomente, die es nicht in die tatsächliche Story geschafft haben und trotzdem aus den verschiedensten Gründen bemerkenswert sind.
Da gibt es zum Beispiel eine ganze Reihe an merkwürdigen Gesprächen, bei denen die Interviewpartner nicht ganz auf der Höhe sind und das Interview entsprechend bizarr abläuft: Strokes-Frontmann Julian Casablancas beispielsweise schaltet schwer alkoholisiert permanent das Bandgerät ab und weigert sich, auch nur mit ein paar sinnvollen Worten auf Fragen zu antworten; Dave Pirner von Soul Asylum, offenkundig auch auf irgendeinem Trip, ist davon überzeugt, daß die Rolling-Stone-Coverstory nur dazu dienen wird, die Band fertigzumachen, und daß sich eh niemand für sie interessiert (während des Gesprächs pinkelt Pirner dann in eine Blumenvase); oder Brian Wilson, der in einem eher traurig anmutenden Interview mit den meisten Themen einfach überfordert zu sein scheint – und bei dem die Ehefrau die meisten Fragen beantwortet.
Viele der Interviews haben eine gewisse Traurigkeit: Johnny Cash spricht in einem sehr späten Interview über den Tod, Eric Clapton redet sehr offen über seine frühere Drogenabhängigkeit, und ein langjähriger Roadie erzählt von der Entfremdung von seiner Familie und auch darüber, daß ihn seine jetzige „Familie“ – die Band – nur so lange behalten wird, wie er nützlich für sie sein kann. Funk-Legende Rick James erläutert, wie er seine Tourpläne stets danach ausgerichtet hat, wo es einfach Drogen zu bekommen gibt und wie hoch die entsprechenden Strafen wären, wenn er damit erwischt wird, und Ike Turner möchte nach dem Gefängnisaufenthalt seine Karriere wieder ankurbeln und kämpft damit, daß sich kein Mensch mehr für seine Musik interessiert, sondern nur noch dafür, daß er Tina Turner in der Ehe mißhandelt hat (und diesbezüglich fühlt er sich vor allem von dem Film WHAT’S LOVE GOT TO DO WITH IT ganz falsch porträtiert).
Und dennoch hat das Ganze keinen allzu düsteren Grundton – auch wenn einem die letzte Geschichte über den Rockjournalisten Paul Nelson, der irgendwann an seinen eigenen Ansprüchen scheitert und die letzten Jahre seines Lebens zurückgezogen lebt, bis er in seinem Apartment verhungert und dort erst nach mehreren Tagen gefunden wird, das Herz bricht. Dazwischen ist das Buch (das auch mit dem alternativen Untertitel JOURNEYS INTO FAME AND MADNESS erschienen ist) gefüllt mit Geschichten, die einfach lustig sind (Oasis-Frontmann Liam Gallagher darf sich einmal mehr mit plumpen Äußerungen ein Augenrollen ernten), mitunter schräg (Sängerin Lucia Pamela erzählt von ihrer – natürlich komplett erfundenen – Reise zum Mond), sogar spannend (für eine Story begibt sich Strauss auf die Suche nach Musikern, die mit der Mafia in Verbindung stehen), oder einfach sympathisch (Pop-Jazz-Saxophonist Kenny G witzelt mit Strauss, daß sie zusammen ein Buch über „love and respect“ schreiben sollten, aber dafür ein Pseudonym verwenden müssen, weil „Strauss and Gorelick“ zu sehr nach Arztpraxis klingt).
Die Interviews sind dabei so arrangiert, daß Strauss Teile davon wiedergibt und dann zu einem anderen Gespräch springt, wo sich die Assoziation anbietet – zu manchen Interviews kehrt er mehrfach zurück, andere werden wirklich nur in kurzen Ausschnitten präsentiert. Wenn also Cher beispielsweise darüber spricht, wie herzlos das Musikbusiness ist („it’s the only business that eats its young“), springt Strauss zu einer Story über den Musiker Josh Clayton-Felt, der mit Universal vergebens bis zu seinem verfrühten Tod um die Freigabe seiner Aufnahmen kämpft, die unveröffentlicht im Archiv der Plattenfirma verstauben – weil Clayton-Felts Vertrag bei einer Firmenübernahme gekündigt wurde. Erst mehrere Seiten und einige Interviews später kehrt Strauss zu Cher zurück, wo es dann um die Aufnahme ihres Hits „Believe“ geht.
Das Puzzle-Konzept sorgt dafür, daß sich das Buch extrem kurzweilig liest: Man verbringt nie allzuviel Zeit bei einem Interview, kehrt aber zu vielen interessanten immer wieder zurück. Außerdem schafft es Strauss damit, die Gespräche lose um gewisse Themen kreisen zu lassen – Tod und Spiritualität, Ruhm und Vergessenheit, Rassismus, Drogen: Die Interviews ergeben ein spannendes Kaleidoskop, das verschiedene Facetten des Rock’n’Roll-Lebens, der Musikwelt und dem Entertainment-Business im Allgemeinen widerspiegelt. Nicht jedes Interview ist ein Schwergewicht und nicht jedes ist unglaublich bezeichnend oder enthüllend, aber gleichzeitig ist keines davon langweilig.
Ganz hinten zieht Strauss dann noch in einem Epilog einige Schlüsse aus den 233 hier versammelten Gesprächen: Er stellt einfache Beobachtungen darüber auf, welche Menschen mehr mit sich im Reinen sind als andere. Da merkt er zum Beispiel an, wie unglücklich selbst absolute Legenden sind, wenn sie immer noch mit ihrer Vergangenheit hadern – sei es, weil sie ihr hinterhertrauern, oder sei es, weil sie mit gewissen Ereignissen noch nicht abgeschlossen haben. Diese Beobachtungen runden die Interviewsammlung auf eine durchaus profunde Art und Weise ab – vor allem, wenn Strauss schreibt, daß der Ruhm bei keinem Menschen dafür sorgt, daß sie besser mit sich selbst klarkommen. „Everyone loves you when you’re dead“ ist damit also gar nicht die wahre Weisheit, die hier durchscheint. Sondern: Alle diese Leute haben ebenso Probleme, Sorgen, Hoffnungen und Fehler. Ganz normale Menschen eben.
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ich bin interessiert….