FilmRetrospektive

JACK: Der Kindskopf Robin Williams als tatsächliches Kind

Bringen wir die Sache gleich auf den Punkt: An diesem Film ist einfach alles falsch. Dabei war sicherlich jeder Beteiligte völlig davon überzeugt, einen großen Wurf am Start zu haben: Nicht nur, daß die Geschichte ganz großes High-Concept-Drama ist – ein Kind altert aufgrund eines genetischen Defekts viermal so schnell wie normale Menschen; mit 10 sieht das Kind also aus wie 40 und soll aber nun nach jahrelanger Behütung und Betreuung durch einen Privatlehrer in eine normale Schulklasse geschickt werden – und nicht nur, daß mit Francis Ford Coppola ein Regisseur den Stoff betreut, der legendäres New-Hollywood-Kino schuf und mit seinem Drama PEGGY SUE HAT GEHEIRATET ja auch schon eine fein beobachtete Betrachtung von Jugend und Erwachsenenalter erzählte: Nein, der zehnjährige Jack mit seinem vierzigjährigen Aussehen wird von Robin Williams gespielt! Man spürt förmlich die Sicherheit, in der sich das komplette Team wog: Was kann da schon schiefgehen? Nun ja: Alles.

Fangen wir doch mal mit Robin Williams an: Welchen Sinn macht es, Robin Williams einen Zehnjährigen spielen zu lassen, wenn er das doch ohnehin schon in jedem zweiten Film tut? So wie Williams hier herumalbert, hampelt, hüpft, krabbelt und grimassiert, ist wenig Unterschied zu seinen übrigen Klamaukstreifen festzustellen. Es wird kein Kind im Körper eines Mannes suggeriert, sondern ein Kindskopf bei dem, was er von Berufs wegen immer wieder macht. Schlimmer noch, daß Williams den zehnjährigen Jungen eher wie ein geistig zurückgebliebenes Kind spielt: Die Reaktionen sind zu laut, zu drastisch, die Schüchternheit ist viel zu aufgesetzt, die Begriffsstutzigkeit teils unglaublich. Gegen Jack ist Forrest Gump unglaublich auf Zack.

Aber auch das Drehbuch läßt ganz fürchterlich aus: Da wird viel Zeit mit offensichtlichem Slapstick verbracht, Williams kriegt viel Raum zum Blödeln, die zehnjährigen Kinder verbringen ihre Zeit hauptsächlich damit, Furzwettbewerbe zu veranstalten oder sich für das Penthouse-Magazin zu interessieren – nicht nur, daß es offenbar keiner der Beteiligten jemals mit wirklichen Zehnjährigen zu tun hatte, es bleibt auch das Potential der Geschichte fast gänzlich unausgelotet: Nämlich die Betrachtung des für uns Selbstverständlichen durch die Augen einer Person, für die es das eben nicht ist. Oder die Tatsache, daß Kinder unterschiedlich schnell reifen und erwachsen werden: Wenn Jack sein ganzes Leben lang nur mit Erwachsenen zu tun hatte (seine Eltern, sein Privatlehrer, vermutlich Ärzte), hätte er dann nicht seine Verhaltensmuster viel schneller der Erwachsenenwelt angepaßt? Wäre es dann nicht reizvoll, ihm durch die Einschulung eine tatsächliche Kindheit schenken zu können?

Fehlanzeige: Alles, woran JACK interessiert ist, ist es, Williams viel Bühne für Albernheiten zu geben und völlig aufgesetztes Drama aus der Tatsache zu holen, daß Jack sich irgendwann vom Leben zurückzieht, weil er einsieht, daß es endlich ist. Nur eine kurze Szene, in der Jack seine Klassenlehrerin mit einer Tüte Gummibärchen zum Tanz beim Schulball bittet, weil sie optisch besser zu ihm paßt als seine Altersgenossinnen, weist auf Möglichkeiten jenseits der Oberflächlichkeiten der übrigen Story hin. Wie wenig die Prämisse des Films tatsächlich ausgelotet wird, ist daran ersichtlich, daß große Teile der Geschichte komplett unverändert funktionieren würden, wenn Jack eine körperliche Behinderung oder Krebs hätte: Das Drama ist völlig beliebig und hat nichts mit Jugend und Alter zu tun.

Ganz zum Schluß sehen wir Jack bei seinem High-School-Abschluß: siebzehn Jahre alt, also rechnerisch im Körper eines 68-jährigen. Williams spielt ihn nicht nur wie einen 86-jährigen – mit zittriger Hand und gebücktem Gang – sondern er hat auch altersweise Worte über den Wert des Lebens zu verlieren, die sich aus dem Munde eines Teenagers falsch und aus dem eines Greisen pathosbeladen anhören.

Wer einen klugen Film über die Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenwerden sehen will, sieht sich STAND BY ME an. Wer Robin Williams in einer tragischen Rolle den Clown spielen sehen möchte, schaut sich KÖNIG DER FISCHER an. Und wer nicht ganz versteht, warum die beiden genannten Filme grandios sind, der sieht sich JACK an.

 

Jack (USA 1996)
Regie: Francis Ford Coppola
Drehbuch: James DeMonaco & Gary Nadeau
Kamera: John Toll
Musik: Michael Kamen
Produktion: Hollywood Pictures / American Zoetrope / Great Oaks
Darsteller: Robin Williams, Diane Lane, Jennifer Lopez, Brian Kerwin, Fran Drescher, Bill Cosby
Länge: 109 Minuten
FSK: 6

Der Screenshot stammt von der DVD (C) 2003 Hollywood Pictures Company.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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