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Madina Lake: From Them, Through Us, To You (2007)

Und passend dazu: Von mir, über uns, für euch ein Review.

Das ist doch mal eine originelle Bandgeschichte: Die beiden Zwillinge Matthew und Nathan Leone, beide vormals in der Gruppe The Blank Theory tätig, bewarben sich bei der US-Realityshow Fear Factor, um Geld für ihr neues Demo zusammenzukriegen. In dieser Ekelversion von Survivor mußten sie unter anderem unter einem fliegenden Helikopter baumeln und rohe Kuhinnereien verspeisen, bis sie den Hauptgewinn von $50.000 ihr Eigen nennen konnten. Das wäre theoretisch richtig cooler Rock’n’Roll, wenn es nicht so dumm und inszeniert wäre – aber die aufregende Backstory für die Promoinfo ist für die Band Madina Lake damit gesichert.

Genaugenommen ist die aufregende Backstory beim ersten Anhören aufregender und origineller als die Musik selbst: Das Debutalbum der Burschen reiht zwölf Pop-Punk-Songs aneinander, die nicht unbedingt einfach von den dreihundertneunundzwanzig Bands aus der gleichen Sparte zu unterscheiden sind. Anstrengend melodiöse, stets zweistimmig-hymnisch produzierte Refrains, glitzernde Gitarren, radioformatierte Songstrukturen. Und das alles noch so dick produziert und mit so wenig Dynamik abgemischt, daß es noch vor der Hälfte ermüdet.

Aber wie so oft ändert sich der Eindruck nach mehrfachem Hören: Zunächst sticht der energiegeladene, souveräne Ohrwurm „House of Cards“ mit seinem exaltierten Gesang heraus – nicht umsonst die erste Single – und danach das verhalten brodelnde „River People“. Ganz hinten explodiert alles bei „True Love“, der Sänger schreit hysterisch, und alles kulminiert in einem kakophonischen Gitarrensolo. Und natürlich setzen sich irgendwann auch die ganzen Melodien im Ohr fest.

Wenn man sich dann ein wenig mit der Band und ihrem Album beschäftigt, merkt man, daß sich Madina Lake sogar ein Konzept für ihr Werk ausgeknobelt haben: Der Bandname benennt eine fiktive amerikanische Kleinstadt aus den Fünfziger Jahren, die quasi eine verzerrte, konzentrierte Version Amerikas zeichnet. Die Songs erzählen von gestorbenen Träumen („Here I Stand“), von Angstattacken („Adalia“) und von gehüteten Geheimnissen („House of Cards“, in dem der Erzähler zugibt: „I know that you love someone, but that someone isn’t me“). In „Me Vs. the World“ erzählen die Brüder von der Verzweiflung über den Tod der Mutter, die von einem betrunkenen Autofahrer getötet wurde, als die beiden zwölf waren.

Wie in der titelgebenden Kleinstadt liegen die interessanten Dinge bei Madina Lake auch unter der schönen, glatten Oberfläche. From Them, Through Us, To You mag kein außergewöhnliches Album sein – aber es bietet genug Material, das sich beim näheren Hinhören erschließt und wächst. Nicht alle Songs funktionieren so gut wie die drei obengenannten, aber das Potential für einen weiteren spannenden Ausflug nach Madina Lake ist da. Auch ohne originellen Reality-TV-Ausflug.

Dieser Text erschien zuerst am 5.11.07 bei Fritz!/Salzburger Nachrichten.

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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