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Schräger als Fiktion (2006)

Mein erster richtiger Mord war an einer neunzigjährigen Frau. Eine Nonne noch dazu. Nachdem ich die Szene geschrieben hatte, haben meine Hände gezittert, und ich mußte erst wieder zu Atem kommen. Es ist nicht leicht, jemanden sterben zu lassen. Schon in einem früheren Skript habe ich einen Mann sich erhängen lassen, aber der zählt nicht – weil ich mir nie die Mühe gemacht habe, ihn als Figur kennenzulernen. SCHRÄGER ALS FIKTION (im Original STRANGER THAN FICTION) weiß, wie schwer es ist, eine Figur, die man selber erschaffen hat, über die Klinge springen zu lassen.

In der Geschichte lebt der Steuerprüfer Harold Crick ein langweiliges, eintöniges Leben – bis er eines Tages eine Erzählstimme wahrnimmt, die seine Aktionen berichtet, seine Gedanken preisgibt und seine Wünsche kennt. Nur er kann sie hören – und von ihr erfährt er, daß er sterben soll.

Der Gedanke an ein plötzliches Ableben weckt Harold auf. Er konsultiert einen Psychiater: „Es ist nicht Schizophrenie, es ist nur eine Stimme, die zu mir spricht“, erklärt er dort. Dann spricht er mit einem Literaturwissenschaftler, der sich mit ihm zusammen auf die Suche nach seiner Geschichte macht: Ist es eine Komödie oder eine Tragödie? Wer mag der Autor sein? „Sie sind jedenfalls nicht König Hamlet oder der Golem“, erklärt der Professor nach einigen kritischen Fragen.

Zeitgleich zu Harolds Geschichte sehen wir die Schriftstellerin Kay Eiffel, die nach zehnjähriger Schreibblockade ihr neues Buch vollenden will – das wie jedes andere zuvor auch mit dem Tod des Helden enden soll. Sie weiß nur noch nicht, wie sie ihn umbringen kann. Ein Sturz von einem Hochhausdach? Eine Schußverletzung? Auf ihrer Suche nach Inspiration durchlebt sie verzweifelte Todesphantasien, die ihrer vom Verlag zur Seite gestellten Assistentin keinerlei Beruhigung hinsichtlich des Abgabetermins verschaffen.

Harold ist derweil daran, sich zu verändern: Er fängt an zu leben, um nicht zu sterben. Er hört auf, seinen Alltag in Zahlenkolonnen und Strukturen zu ordnen. Er erfüllt sich einen langgehegten Traum und kauft sich eine E-Gitarre, auf der er unbeholfen einige Akkorde übt. Und er läßt sich zaghaft auf eine vorsichtige Romanze mit einer Bäckerin ein, bei der er eine Steuerprüfung vornehmen muß – und die ihm seit ihrer ersten, wenig freundlichen Begegnung nicht mehr aus dem Kopf geht.

SCHRÄGER ALS FIKTION funktioniert auf mehrere Arten. In seinem Kern ist der Film eine klassische Läuterungsgeschichte – eine Fabel über einen Menschen, der nach übernatürlicher Intervention beginnt, sein Leben zu überdenken und zu ändern. Er ist eine Komödie, die mit perfektem Timing die ganz normalen Alltagsneurosen vorkehrt. Er ist eine Romanze, in der zwei Menschen sich über viele Ungeschicklichkeiten zu der Einsicht herantasten, daß sie die Gegenwart des anderen glücklich macht. Und er ist eine Auseinandersetzung mit dem Schaffensprozeß, eine Reflektion über Kunst und die Verantwortung, die sowohl die Kunstschaffenden als auch ihre Rezipienten ihr gegenüber haben. „Sie müssen sterben. Es ist ihr Meisterwerk“, erklärt der Literaturwissenschaftler dem ungläubigen Harold.

Daß der Film auf all diesen Ebenen funktioniert, liegt an dem perfekten Zusammenspiel seiner einzelnen Parts. Zach Helms Skript ist clever und wirklich durchdacht, steht sich in seiner Cleverness aber nicht selber im Wege dabei, eine komische und emotionale Geschichte zu erzählen. Marc Forsters Regie wandelt mit sicherem Gespür durch die verschiedenen Tangenten der Geschichte – leichtfüßig in der Komik, intim in seiner Romanze, und intelligent in seiner Reflektion. Will Ferrell – ein Mensch, der sich bislang so furchtlos zum Affen gemacht hat wie kein zweiter Komiker – ist überraschend gut und ernst, und sein gehemmter und teilweise tragischer Held wird zu einer realen Figur. Emma Thompson verleiht der Schriftstellerin fahrige Züge, abwesende Blicke, völlig gefangen im Prozeß des Schreibens. Als Literaturprofessor traumwandelt Dustin Hoffman mit sichtlichem Vergnügen durch eine Rolle, deren trockener Humor mit grandioser Beiläufigkeit ausgekostet wird. Und dann ist da noch Maggie Gyllenhaal, die Bäckerin, in die sich Will Ferrell verliebt – und die uns auch als Zuseher fasziniert mit der Intelligenz, die in ihren Augen funkelt, den amüsierten Seitenhieben, und der Wärme, die sie ausstrahlt.

Der Schluß des Films mag auf Anhieb inkonsequent erscheinen, aber was die Schriftstellerin dazu erklärt, macht ihre Entscheidung völlig plausibel – in der Geschichte und für die Geschichte. Es ist eben schwer, seine Figuren umzubringen, wenn man sie erst einmal kennengelernt hat.

Schräger als Fiktion (USA 2006)
Originaltitel: Stranger than Fiction
Regie: Marc Forster
Drehbuch: Zach Helm
Darsteller: Will Ferrell, Maggie Gyllenhaal, Dustin Hoffman, Emma Thompson, Queen Latifah
Länge: 113 Minuten
FSK: 6

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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