Mit ihrem sechsten Album TUG OF WAR bedient die Gruppe Enchant Prog-Fans und
solche, die es gar nicht werden wollen.
MISSION: SITUATION. Von den Machern einer früheren CD kommt hier also eine völlig neue – wer nicht gerade Musikfreak mit enzyklopädischem Wissen über im Nischendasein dahinfristende Bands ist, wird über ein unaufgeregtes Spocksches Augenbrauenheben bei der Begegnung mit TUG OF WAR der Prog-Rock-Band Enchant nicht hinauskommen. Unser Agent Weizenkeim wird mittels dieses Dossiers den Bildungsnotstand beheben.
MISSION: DEFINITION. Was ist eigentlich Progressive Rock? Wir erinnern uns: Damals, als alle noch selig waren – sprich: in den 70ern – war die silbensparend „Prog Rock“ genannte Musikrichtung heiß wie Christine Keeler, cool wie Steve McQueen, und hip wie Leonard Cohen eine Dekade zuvor. In albenfüllenden Songs zelebrierten modern denkende Bands komplexe Harmonienfolgen und abartig mathematische Rhythmen, gefüllt mit minutenlangen Soli und einem mitunter prätentiösen Hauch des Erhabenen. Während Yes-Keyboarder Rick Wakeman vorführte, warum auch Tasteninstrumente einen Lautstärkeregler haben sollten, trommelte sich die spätere Popglatze Phil Collins in der Band Genesis durch haarig gute Kompositionen.
MISSION: INFORMATION. Die 70er sind längst vorbei – seit ungefähr 30 Jahren, um genau zu sein – und das mittlerweile fast zum Schimpfwort verkommene „Prog Rock“ müsste eigentlich „Retro Rock“ heißen: Es gibt tatsächlich mehr Prog-Rock-Bands als früher (Durchhalter wie King Crimson gibt es sogar immer noch), aber allesamt klingen sie wie die Heroen von damals. Auch Enchant machen aus ihren Vorbildern keinen Hehl. Nachdem allerdings die Gruppe fünf Alben lang bereits geschickt Nostalgie pflegte, wird auf der neuen Scheibe der Prog-Anteil reduziert und der Pop-Gehalt angehoben. Agent Weizenkeim empfiehlt folgende Formel zur Einstufung eines Prog-Exponats:
[(Steve-Vai-Faktor) / (Länge der Songs)] * (Ausmaß der Selbstverliebtheit) = Prog-Faktor
MISSION: DISSEKTION. TUG OF WAR bietet weniger harte Gitarrenriffs als die Vorgänger und weniger instrumentales Gegniedel – sieht man einmal von „Progtology“ ab, wo, um die solistische Glückseligkeit nicht zu gefährden, der Gesang wegrationalisiert wurde. Die Konzentration liegt eindeutig auf dem Songwriting, das immer wieder kleine, konzise Pop-Perlen abwirft, so beispielsweise die Ballade „Beautiful“ oder das epische „Comatose“. Sänger Ted Irgendwas schreit weniger und singt mehr, womit er sich ebenso verdient macht wie sein Kumpane an der Gitarre, der überlegter spielt und sich nicht in den Vordergrund drängt.
MISSION: KONTEMPLATION. Prog-Freunde haben sich die CD natürlich schon gekauft, schließlich sind Enchant zwar nicht immens bekannt, genießen aber einen guten Ruf. Wer Prog meidet, weil er gemerkt hat, dass alle Spock’s-Beard-Alben exakt gleich klingen, wird hier erfreut feststellen, dass Enchant weniger schubladenfreudig musizieren und Mut zur Kürze zeigen. Weizenkeim meldet sich mit der Empfehlung „Chance geben und anhören“ ans Hauptquartier zurück.
Dieser Text wurde am 11. September 2003 geschrieben und in leicht gekürzter Form erstmalig am 23. September 2003 bei Fritz/Salzburger Nachrichten veröffentlicht.
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