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MINORITY REPORT: Spielberg, Dick und die Bombe

Im Rahmen unserer kleinen Steven-Spielberg-Retrospektive zu seinem 70. Geburtstag schreibt mein Podcast-Kollege Dr. Wily in seinem Gastbeitrag über MINORITY REPORT, Spielbergs hochakuteller Verfilmung einer Geschichte von Zukunftsparanoiker Philip K. Dick.

Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt“ erzählt die Geschichte eines Psychologen, der eine Methode entwickelt hat, um die Eigenschaften einer gezielten Menge an Einzelpersonen sehr treffgenau zu erfassen und deren Verhalten vorherzusagen. Die Methode basiert auf einer Mischung aus Theorien der Persönlichkeitspsychologie, Online-Userdaten wie Facebook-Likes oder Google-Suchbegriffen sowie zusätzlichen zusammengekauften Informationen wie Wohnadressen oder Supermarktbonuskarten. 150 Likes und das Programm kennt dich besser als deine Eltern. 300 Likes und das Programm kennt dich besser als dein Partner oder deine Partnerin. Noch mehr und das Programm kann dein Verhalten in bestimmten Situationen und auf bestimmte Reize besser vorhersagen als du selbst. Weil der Psychologe seine Methode nicht verkaufen will, wird sie von einer Firma einfach kopiert und als Dienstleistung an verschiedene rechtspopulistische Politiker verkauft, die sich damit große Wahlerfolge und den Zugriff auf Macht im Staat erhoffen.

„Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt“ ist ein Artikel von Hannes Grassegger und Mikael Krogerus, der am 3. Dezember 2016 in der Zeitschrift „Das Magazin“ erschienen ist. Nicht nur der Titel hätte Philip K. Dick gut gestanden – die ganze Geschichte könnte gut seiner Phantasie entsprungen sein: eine Welt, in der alle Daten irgendwo zusammenlaufen und dann von einer unbekannten Institution benutzt werden, um uns zu manipulieren, ohne daß wir etwas davon mitbekommen. Von hier ist es nicht mehr weit zu „Minority Report“, einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick aus dem Jahre 1956, in der es auch um Personen und Institutionen geht, die mehr über andere Menschen wissen als diese Menschen selbst.

Jemand oder etwas anderes kennt mich besser als ich mich selbst – das bedeutet den Verlust der Kontrolle über meine eigenen Gedanken und damit meine eigene Persönlichkeit. Es ist eine der größten und tiefsitzendsten Ängste jedes Menschen.

Treffen der PreCrime-Generationen: Lamar Burgess (Max von Sydow, links) und John Anderton (Tom Cruise).

Die Verfilmung dieser Geschichte aus dem Jahre 2002 ist das Aufeinandertreffen zweier großer und gleichzeitig sehr gegensätzlicher Geschichtenerzähler des 20. Jahrhunderts. Auf der einen Seite der visionäre, mißtrauische und zuweilen paranoide Philip K. Dick. Auf der anderen Seite der ewige Humanist Steven Spielberg, der sich mit zunehmendem Alter auch als nimmermüder Verfechter von und Kämpfer für eine faire und demokratische Gesellschaft entpuppt, und der hier den Themenfaden der Individualität aus seinem Vorgängerfilm A.I. wieder aufnimmt und in eine etwas andere Richtung weiterspinnt.

In der Welt von MINORITY REPORT gibt es Menschen mit speziellen kognitiven Fähigkeiten, sogenannte Pre-Cogs, die in einer blitzartigen Vision Morde sehen können, die erst in der Zukunft passieren werden. Eine Polizeieinheit namens PreCrime macht sich diese Fähigkeit zunutze, um angehende Mörder vorzeitig zu verhaften, und kreiert so seit Jahren eine Gesellschaft ohne Morde. Einer der führenden Agenten dieser Einheit ist John Anderton (Tom Cruise), der selbst sein Kind an ein Gewaltverbrechen verloren hat und deshalb ein überzeugter Verfechter des Systems ist – bis er selbst in einer Vision der Pre-Cogs auftaucht. Von seiner aktuellen und auch zukünftigen Unschuld überzeugt, muß er fliehen und gleichzeitig versuchen, dahinterzukommen, wer die Vision um sein zukünftiges Verbrechen gefälscht hat. Was in einer Welt gar nicht so einfach ist, in der Augenscanner nicht nur auf animierten Werbetafeln angebracht sind, um den Menschen ihre personalisierte Werbung zukommen zu lassen, sondern auch über jeder U-Bahn-Tür hängen, wodurch die Polizei immer weiß, wo sich Personen gerade befinden.

Ihm auf den Fersen ist der Bundesagent Danny Witwer (Colin Farrell), der nicht nur die Auswirkungen des PreCrime-Systems in Frage stellt, nämlich das Verhaften völlig unschuldiger Personen, sondern auch dessen Grundlage stark kritisiert: Er ist der Meinung, daß eine Technologie, die sich so auf menschliche Fähigkeiten verläßt, nicht perfekt funktionieren kann, denn Menschen machen Fehler. Es ist Teil des Menschseins. Was, wenn die Pre-Cogs sich nicht einig sind in ihren Visionen? Kann es nicht sein, daß Menschen eine alternative Zukunft haben könnten als von den Pre-Cogs vorhergesehen? Kann es sein, daß Menschen entscheiden können, wie sie handeln? Ist die Beeinflußbarkeit und Veränderbarkeit der Zukunft nicht schon allein dadurch bewiesen, daß PreCrime Verbrechen vorzeitig verhindert und somit die von den Pre-Cogs gesehene Zukunft gar nicht eintritt? Im Falle von PreCrime sind Antworten auf diese Fragen nicht ohne schwerwiegende Konsequenzen.

Die Pre-Cogs sind in ihren Visionen den menschlichen Abgründe ausgeliefert.

In Dicks Geschichte sind die Figuren nur Marionetten in einem System, das alles und jeden überwacht, das jedem immer einen Schritt voraus ist, alles von langer und noch längerer Hand geplant hat und in dem es hinter jeder Verschwörung eine noch viel weiterreichendere Verschwörung gibt. Selbst seinen Arbeitskollegen, Freunden und sogar der eigenen Ehefrau kann man nicht trauen.

Bei Spielberg ist der Mensch solange unschuldig, bis er sich schuldig macht. Bis dorthin besteht Raum zur Veränderung und Entwicklung – und selbst nach der Schuld gibt es immer die Möglichkeit zur Wiedergutmachung. Der Spielbergsche Mensch hat das Potential, sich stetig zum Guten zu entwickeln, was bei ihm auch immer einen Dienst an und für andere, an und für die Gesellschaft inkludiert und sich nicht nur auf die inneren Aspekte der Persönlichkeit bezieht.

Wenn Dicks Protagonist dem System entkommt, hat er seinen Hals gerettet, aber das korrupte, fehleranfällige System besteht weiter. Der Mensch ist zu ohnmächtig das große Ganze zu ändern. Bei Spielberg legt der Protagonist die Mängel und Unmenschlichkeit des Systems offen und bringt es zu Fall: Hier gibt es immer eine alternative Zukunft, die wir selbst entscheiden und beeinflussen können.

John Anderton und Pre-Cog Agatha (Samantha Morton) sind auf sich allein gestellt.

Wäre unsere Eingangsgeschichte „Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt“ tatsächlich eine Geschichte von Philip K. Dick, würde sie vielleicht damit enden, daß ein unkontrollierter Narzisst mit dieser Technologie die Macht in der größten Atommacht der Welt an sich reißt. Und hätte Spielberg diese Geschichte dann verfilmt, würde bei ihm diese Technologie am Ende dafür genutzt, die Ressourcen und Möglichkeiten der Menschen zu füttern und zu mobilisieren – und nicht länger nur ihre Ängste.

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Minority Report (USA 2002)
Regie: Steven Spielberg
Buch: Scott Frank & Jon Cohen, nach einer Geschichte von Philip K. Dick
Musik: John Williams
Kamera: Janusz Kaminski
Darsteller: Tom Cruise, Max von Sydow, Colin Farrell, Peter Stormare, Samantha Morton
Dr. Wily
Dr. Wily mag das Alte. Selbst aktuellen Entwicklungen in Musik, Film, Literatur und Computerspiel gibt er oft Monate bis Jahre Zeit, um sich von ihnen einnehmen zu lassen. Mit zunehmendem Lebensalter zieht es ihn vermehrt zu Horror- und Mysterygeschichten hin, nur um sich dann seine Seele doch wieder von Richard Linklater, Jim Jarmusch, Jack Kerouac, Jackson Browne, Paul Simon oder J.D. Salinger streicheln zu lassen. Außerdem kann er nach 15 Jahren Spielpause MEGA MAN 2 aus dem Stand bis ins vorletzte Level durchspielen.

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