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TOP GUN – Eine Propaganda persönlicher Erfüllung

In der Reihe „Class of 1986“ widmet sich Wilsons Dachboden zwölf Filmen, die dieses Jahr ihr 30-jähriges Jubiläum feiern. Den Anfang macht eine dreiteilige Retrospektive zu Tony Scotts TOP GUN.

Schon im Juli 1986, knapp zwei Monate nach Start des Fliegerspektakels TOP GUN, berichtete die Los Angeles Times über einen Rekrutierungsanstieg bei der Navy – immerhin wurden teils in den Kinos Stände aufgebaut, an denen man sich freiwillig melden konnte. In seinem 2004 erschienenen Buch OPERATION HOLLYWOOD gibt Autor David L. Robb an, daß nach Veröffentlichung des Films die Zahl der Neuanmeldungen um 500 Prozent gestiegen sei. Wenn TOP GUN als Propagandafilm bezeichnet wird, ist das keine Übertreibung.

Maverick – der Einzelgänger: Tom Cruise.

Dabei ist es gar keine politische Ideologie, die hier propagiert wird – abgesehen natürlich von dem Standpunkt, daß das Militär eine schnuckelige Angelegenheit ist, in der exzellente Männer auch menschlich noch wachsen können. Die Feinde in TOP GUN sind anonym, dunkle Flugzeuge mit nicht identifizierbaren Gestalten darin – vielleicht Russen, vielleicht Koreaner, aber eigentlich nur kontextlose Gegner, die von den amerikanischen Elitefliegern in ihre Schranken verwiesen werden. Perfekte Werbung für die Army ist das nicht nur deswegen, weil der Film das ganze Leistungsnarrativ der Dekade, die Sieg-durch-Optimierung-Idee dieser Ära so punktgenau einfängt – nein, der Hauptgrund, warum TOP GUN so verführerisch funktioniert, ist die Tatsache, daß sich hier die ganze Welt in all ihren Ereignissen hauptsächlich um die Charakterbildung eines einzelnen Individuums dreht. Nicht ganz zufällig ist dieses Individuum die Hauptfigur, mit der wir uns identifizieren.

Er heißt nicht umsonst „Maverick“, der Einzelgänger, der hier als talentierter Pilot an die Eliteschule Top Gun geholt wird, um dort eine Sonderausbildung zu erhalten. Maverick macht die Dinge auf seine Weise, begleitet von seiner treuen zweiten Geige „Goose“, die sich stets brav unterordnet. Schon zu Beginn sehen wir, wie Maverick Befehle seines Vorgesetzten mißachtet, um einem Pilotenkollegen zu helfen. Natürlich sind wir auf seiner Seite, obwohl eine Militärstruktur mit derartigem Gutdünken eines Einzelnen nie funktionieren könnte – aber Mavericks Können gibt ihm auch im Film Recht. Er wird von seinen Vorgesetzten zurechtgewiesen, aber niemals ohne die Vergewisserung, daß er einer ihrer besten Piloten sei. Exzellenz schafft Privilegien.

Spannungen zwischen Iceman (Val Kilmer, links) und Maverick (Tom Cruise).

Im Top-Gun-Programm darf sich Maverick mit anderen herausragenden Könnern messen, darunter der korrekte Iceman, der Mavericks Draufgängertum als gefährlich einstuft. Im wahren Leben wäre Iceman derjenige mit den wünschenswerten Charaktereigenschaften, hier aber ist er der ungläubige Thomas – ein kalter Unmensch, der Mavericks Brillanz noch nicht erfaßt hat. Er wird zum Schluß respektvoll den Hut vor dessen Fähigkeiten ziehen dürfen.

Mavericks Kummer beginnt, als er an sich selbst zu zweifeln beginnt. Bei einem Unfall stirbt sein Partner Goose, weshalb Maverick seine Leichtfüßigkeit verliert. Der Tod seines Freundes stürzt ihn in eine Sinnkrise – nicht etwa, weil er mit dem Verlust hadert, sondern weil er ab sofort an seiner eigenen Unbesiegbarkeit zweifelt. In TOP GUN ist ein Todesfall nicht tragisch, weil ein Mensch stirbt, sondern weil ein anderer deswegen sein bislang ungebrochenes Selbstvertrauen verliert.

Spannungen anderer Art zwischen Maverick und Ausbilderin Charlie (Kelly McGillis).

Zum Glück darf die Welt zusammenarbeiten, den jungen Piloten wieder auf die richtige Spur zu bringen und aus ihm den besten Piloten zu machen, der er ohnehin schon war. Die Ausbilderin Charlie, seinem Charme schon längst verfallen, redet ebenso auf ihn ein wie Kommandant Viper, der Maverick zuvor sogar schon für seine Arroganz gelobt hat. Selbst die Witwe von Goose sieht es offenbar als ihre primäre Aufgabe, Maverick aufzubauen: „God, he loved flying with you, Maverick“, versichert sie ihm schluchzend, als er ihr nach Gooses Tod seine Aufwartung macht.

TOP GUN ist wie ein mißverstandener Entwicklungsroman, in dem die ganze Welt nur in Bezug auf einen selbst existiert, und Maverick als Zentrum dieser persönlichkeitsstärkenden Ereignisse der quintessentielle Held der amerikanischen Achtziger. Reagan versprach unerschöpfliches Wachstum, Anstrengungen würden mit Gewinn belohnt werden. In der tatsächlichen „Top Gun“-Schule gibt es keinerlei Trophäe zu gewinnen, aber der Film läßt sich von solchen Wirklichkeitsdefiziten kaum bremsen: Hier zählen Leistung und Ehrgeiz, das Leben ist ständiger Wettkampf. „No points for second place“, wie es an einer Stelle heißt. Amerika liebt nur die Sieger.

„I feel the need … the need for speed.“

Es ist nur allzu passend, daß Regisseur Tony Scott zuvor als Werbefilmer arbeitete: Seine Bilder für TOP GUN sind eine einzige Verkaufsshow. Sie verkaufen den Traum vom Aufstieg, den Traum vom Sieg, die Erfüllung aller Sehnsüchte nach Abenteuer und persönlicher Verwirklichung. Die Sonne überflutet jeden Moment, und selbst in die nüchternen Büros der Navy dringt das grelle Licht so optimistisch gleißend, daß der Griff zu den ikonischen Ray-Ban-Sonnenbrillen ganz natürlich scheint. Scott sah die jungen Piloten als „rock’n’roll stars“ und setzt sie dementsprechend in Szene: Wie Werbung gerne eine Illusion von Lebensgefühl evoziert, wirkt auch das Leben als Kampfpilot in TOP GUN wie ein immerwährender Sommer an einem Ort, an dem man seinen Platz im Leben findet.

Mit der Ästhetik von TOP GUN beeinflußten Scott und die Produzenten Jerry Bruckheimer und Don Simpson maßgeblich das Kino der Achtziger und diverse spätere Action-Blockbuster. Auch inhaltlich hinterließ der Film seine Spuren – als perfekt designtes Popcorn-Spektakel schuf er sich seine eigene Nische in der Popkultur, trug aber auch zur Formelhaftigkeit und Substanzlosigkeit folgender Produktionen bei. Vielleicht regt der Film an, eine Ausbildung zum Piloten zu machen – aber bestimmt keine zum Drehbuchautoren.

Morgen folgt Teil 2 der TOP-GUN-Retrospektive: Ein Gespräch mit Dachboden-Gastautor Dr. Wily über den Soundtrack des Films (hier). Übermorgen schließe ich die Retrospektive mit einem Blick auf den Look von Kelly McGillis bzw. ihrer Filmfigur ab (hier).



Top Gun – Sie fürchten weder Tod noch Teufel (USA 1986)
Originaltitel: Top Gun
Regie: Tony Scott
Buch: Jim Cash & Jack Epps Jr.
Kamera: Jeffrey Kimball
Musik: Harold Faltermeyer
Produktion: Jerry Bruckheimer & Don Simpson
Darsteller: Tom Cruise, Kelly McGillis, Val Kilmer, Anthony Edwards, Tom Skerritt, Michael Ironside, John Stockwell, Barry Tubb, Rick Rossovich, Tim Robbins, James Tolkan, Meg Ryan, Adrian Pasdar

Die Screenshots wurden von der deutschen BluRay (C) 2009 Paramount Pictures genommen.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

    1 Comment

    1. 5 Sterne.
      Wieder einmal fein auf den Punkt gebracht. Irgendwie seltsam, dass gerade diese Schmonzette zu einem echten Klassiker geworden ist.

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