Ich habe ja eine Theorie, daß das, was früher die Reiseberichte und Entdeckergeschichten waren, heute zum sozialen Selbstversuch mutiert ist. Im 19. Jahrhundert konnte man noch diverse blinde Flecken auf der Landkarte ausmachen und sich auf gefährliche Erkundungsreisen begeben, von denen man den Menschen zuhause berichtete. Heute gibt es auf der Welt nicht mehr viel Gebiete zu bereisen, die nicht schon ausgiebig dokumentiert wurden – also beschreiten manche Menschen eben experimentelle Lebenspfade und erzählen von dem, was sie dort erlebt haben. Ob nun Danny Wallace versucht, möglichst viele Menschen dazu zu bringen, einer Sache beizutreten, die eigentlich keinen Inhalt außer dem Beitreten hat (JOIN ME) oder Morgan Spurlock sich selber mit ausschließlicher McDonald’s-Ernährung potentiell die Gesundheit ruiniert (SUPER SIZE ME): Die literarischen und filmischen Protokolle dieser Abenteuer lassen uns auf die eine oder andere Weise Bereiche der Welt sehen, die uns bislang verborgen blieben.
Der Filmemacher Joseph Garner hängt seine filmische Reise an einer Website auf: Craigslist, eine amerikanische Anzeigenbörse, in der es zu wirklich jedem Thema Angebote und Gesuche gibt. Garners Ansatz: Weil es immer heißt, daß die Technologie Menschen voneinander entfremdet, will er versuchen, einen Monat lang Amerika zu durchqueren und dabei nur von Kontakten zu leben, die sich durch Craigslist ergeben – Essen, Transport, Unterkunft und alles andere muß sich also durch Angebote regeln lassen, die andere machen, oder durch per Craigslist arrangierte Tauschgeschäfte.
So reist er also durch die Staaten, lernt Menschen unterschiedlichster Art und Herkunft kennen, trifft auf eine Menge Hilfsbereitschaft und hört sich die Geschichten an, die seine Mitmenschen teilen wollen. Es wird schnell klar, daß es bei CRAIGSLIST JOE nicht darum gehen wird, ob Garner die 30 Tage ohne Geld überstehen wird: Der Film zeigt eine Welt voller Möglichkeiten, in der es immer einen Weg und etwas Unterstützung von anderen gibt. Nur zweimal ist die Unterkunft überhaupt ein Thema; von Hunger oder anderen Notwendigkeiten des Lebens ist ohnehin nie die Rede.
Selbst, wenn man den Film für eine gänzlich ungeplante Dokumentation hält, tun sich grundlegende Fragen auf, die nie angesprochen werden: Da Garner stets mit seinem treuen Kameramann umherreist, dürfte einiges an Hilfsbereitschaft vielleicht alleine dadurch gesichert sein, daß Menschen gesehen werden wollen, sein Projekt interessant finden, oder vielleicht einfach einen nach Unterkunft suchenden Filmemacher anders einstufen als einen einsamen Bettler auf der Straße. Allerdings dürfte der Ablauf des Films weitaus mehr vorherbestimmt sein, als die Inszenierung suggeriert: Garner macht praktischerweise eine umfassende Rundreise durch die Staaten, die sich angeblich zufällig ereignet; er arrangiert ein Treffen mit Craigslist-Erfinder Craig Newmark, für das ein fixer Termin am anderen Ende des Landes arrangiert wird, zu dem Garner dann auch ganz passend mehrere aneinanderhängende Mitfahrgelegenheiten findet; er trifft nur auf freundliche Menschen, die ihn freudestrahlend aufnehmen, und die kurioserweise auch einen wunderbaren demographischen Querschnitt abgeben – von der irakischen Einwandererfamilie über die jüdische Gemeinschaft, die krebskranke Schauspielerin und den modernen Hippie hin zur sympathischen jungen Frau, die nebenher als Domina arbeitet.
So ist der Film unterhaltsam und kurzweilig, wenn auch durch seine nicht ganz zuverlässige Authentizität nicht ungemein spannend oder erkenntnisreich: Es ist eben die Reise eines netten Menschen, der viele andere nette Menschen trifft und dabei teils witzige, teils anrührende Geschichten hört. Fast demonstrativ weint Garner auch zweimal im Film: Einmal, als er durch das zerstörte Louisiana geht und die Unmengen an kaputten Häusern sieht, das zweite Mal, als er am Ende des Films seiner Mutter erzählt, wie bewegt er von der immensen Hilfsbereitschaft der Menschen ist. Spätestens da wird klar, daß CRAIGSLIST JOE kein Experiment ist, sondern eine Überzeugungsäußerung: Es ging von vornherein darum, zu zeigen, daß die Menschen im Grunde genommen gut sind.
Warum ich den Film nicht nur unterhaltsam, sondern auch durchaus wertvoll finde, hat somit einen recht einfachen Grund: Er vertritt eine Weltsicht, mit der ich absolut einverstanden bin. Garner will zeigen, daß Menschen überraschend helfen können, wenn man auf sie zugeht, und daß sie ihre Welt teilen möchten, wenn man sich dafür interessiert. Das mag etwas naiv und optimistisch sein, aber in dieser Hinsicht bin ich gerne optimistisch – die Welt hat schon genug Zynismus, zu dem ein Gegengewicht durchaus sinnvoll ist. Nebenbei zeigt Garner, wie die Welt aus den unterschiedlichsten Leuten besteht, deren Menschlichkeit nicht von ihrer Herkunft, ihrem Alter, ihren Tätigkeiten und ihren Überzeugungen abhängt – und er sagt, daß es sich lohnt, sich auf Menschen und Dinge einzulassen. Und da sind wir wieder bei Danny Wallace.
Craigslist Joe (USA 2012)
Regie: Joseph Garner
Kamera: Kevin Flint
Musik: David G. Garner
<i>Alle Bilder stammen von www.imdb.com, (C) 2012 CLJ Films.</i>