FilmRetrospektive

HEAVEN’S GATE – DAS TOR ZUM HIMMEL: Von Klassenkämpfen, Idealen und Wirklichkeit

Bei der Abschlußzeremonie an der Harvard-Universität im Jahr 1870 gibt der Dekan den Elitestudenten einen Bildungsauftrag mit in die Welt: „It doubly behooves us to look well to the influence we may exert. A high ideal: the education of a nation.“ Viele dieser Studenten aus reichem Haus werden zukünftig die Geschicke des Landes lenken, und sie sollen es kultivieren. Der Jahrgangssprecher zieht seine nachfolgende Rede weitaus weniger ernst auf, reimt und witzelt sich durch eine Entgegnung, die letzten Endes ankündigt, daß die Dinge immer so bleiben werden, wie sie sind: „We disclaim all intention of making a change in what we esteem on the whole well-arranged.“

Da ist sie wieder, diese Diskrepanz zwischen dem Ideal und der Realität Amerikas – eine Kluft, die sich immer wieder in Michael Ciminos Filmen niederschlägt, manchmal als melancholisches Gefühl, daß etwas schiefläuft im Land, wie in DEN LETZTEN BEISSEN DIE HUNDE, und manchmal als vage Ambivalenz zwischen Verehrung und Desillusion, wie in der Schlußszene von DIE DURCH DIE HÖLLE GEHEN. Nirgends aber ist diese Ernüchterung über das Land spürbarer und expliziter eingefangen als in Ciminos drittem Film, dem monumentalen Spätwestern HEAVEN’S GATE – DAS TOR ZUM HIMMEL.

Der freie Westen als mythologischer Ort.

 

Der Film ist ein wehmütiger Blick auf ein Amerika, das weit entfernt ist von der hehren Einladung, die auf der Freiheitsstatue zu lesen ist: „Give me your tired, your poor / Your huddled masses yearning to breathe free“. HEAVEN’S GATE zeichnet eine andere Wirklichkeit: „It’s getting dangerous to be poor in this country“, heißt es an einer Stelle. Nach dem Harvard-Prolog spielt der Großteil des Films im Jahr 1890 in Wyoming, wo sich eine Vereinigung reicher Viehzüchter von den zahlreichen Einwanderern bedroht fühlt, die gelegentlich Vieh stehlen, um ihre hungernden Familien zu ernähren. Die Vereinigung kann eine „Todesliste“ mit 125 Personen erstellen, die ab sofort als vogelfrei gelten und unter Absegnung der Regierung exekutiert werden dürfen – sprich: Die Wohlhabenden planen den legalisierten Mord an den Armen.

Dieser sogenannte Johnson-County-Krieg ist historisch verbrieft, auch wenn er tatsächlich eher in der Theorie stattgefunden hat: Die Viehzüchter heuerten tatsächlich eine Bande an Söldnern an, um 70 Einwohner von Johnson County, die des Viehdiebstahls bezichtigt wurden, unter dem Mantel des Gesetzes zu töten. Tatsächlich starben aber nur zwei Menschen, bevor sich die Einwohner zusammentaten und die Söldner umzingelten – die dann vom Militär gerettet wurden. Cimino spielt also sehr lose mit den geschichtlichen Gegebenheiten und konzentriert sich lieber auf die empörende Essenz dieser Vorgänge: Die Reichen kommen mit Mord durch, die Armen sind im Lande unerwünscht. Er ist dabei eindeutig auf der Seite der Notleidenden: Wenn man in einer Szene eine Gruppe von Frauen mühsam einen Pflug über den Acker ziehen sieht, weil die sich kein Vieh leisten können, käme man nie auf den Gedanken, die Position der Viehzüchter für legitim zu halten.

Sheriff James Averill (Kris Kristofferson) hält zu den Einwanderern.

In den Ereignissen, die in Ciminos Variante in einem tragischen Blutbad enden, treffen zwei Freunde aus Harvard wieder aufeinander: James Averill (Kris Kristofferson), der als Sheriff von Johnson County zu den Einwanderern hält, und Billy Irvine (John Hurt), der seinerzeit die Abschlußrede gehalten hat und nun Mitglied der reichen Viehzüchtervereinigung ist. Irvine will den Mord an den (teils nur vermeintlichen) Viehdieben nicht gutheißen, aber sein kurzer Protest verhallt ungehört – und weil er, ganz im Sinne seiner damaligen Worte, zu feige oder zu bequem ist, um sich gegen die bestehenden Verhältnisse aufzulehnen, flüchtet er sich in den Alkohol und in die Apathie. „I’m a victim of our class“, sagt er zu Averill – einer von Ciminos vielen ambivalenten Momenten, der andeuten könnte, daß Irvine zwangsläufig mitmachen muß, aber genauso gut bedeuten kann, daß sich das Verhalten der oberen Klasse in Amerika nie ändern wird.

Neben Averill gibt es noch eine weitere Figur, die sich zwischen den Klassen bewegt: Der Kopfgeldjäger Nate Champion, der zu Beginn des Films kaltblütig einen der Siedler erschießt, später aber dann einen potentiellen Viehdieb laufen läßt. Der wirft ihm vor: „You look like one of us. You work for them?“, woraufhin Champion erwidert: „I’ll decide what I am“. Das tut er später auch, als er sich von dem Sadismus der angeheuerten Söldner distanzieren will und sich gegen die Vereinigung stellt – zu einem hohen Preis. Wie Irvine ist er gewissermaßen ein Opfer seiner Klasse – oder in diesem Falle beider: der einen, was sein Verhalten angeht, der anderen, was sein Schicksal betrifft.

Die Frau zwischen Averill und Champion: Ella Watson (Isabelle Huppert).

Auch auf Averill trifft Irvines Ausspruch zu. Er kämpft ebenso wie Nate Champion um das Herz der schönen Ella Watson, die in der Nähe des Dorfes ein kleines Freudenhaus betreibt. Averill will sie dazu überreden, zu fliehen, weil ihr Name ebenfalls auf der „Todesliste“ steht – aber sie will bleiben und hofft auf mehr Verbindlichkeit in ihrer Beziehung zu Averill. Der ist da eher ausweichend – aber dafür macht Champion Ella einen Heiratsantrag. Ein paar Mal sehen wir, wie Averill ein altes Photo betrachtet, auf dem er zusammen mit einer jungen Dame aus seiner Harvard-Zeit zu sehen ist. Ist er vielleicht dieser Frau schon versprochen, eventuell schon liiert? Oder kann er einfach nicht vom Glanz der guten alten Zeiten lassen? So oder so: Nachdem alles geschehen und vorbei ist, sehen wir Averill in einem kurzen Epilog weitere 13 Jahre später auf einem luxuriösen Dampfschiff – zusammen mit eben jener Frau aus Harvard. Man kann seine Klasse wohl doch nicht so leicht abstreifen.

Wie in seinem Vietnamdrama DIE DURCH DIE HÖLLE GEHEN findet Cimino den Zugang zu seiner Geschichte über das Private: Die Dreiecksbeziehung zwischen Averill, Champion und Ella nimmt sehr viel Raum im Film ein und spiegelt die Hoffnung ebenso wie die Ernüchterung wieder, die auch den politisch-gesellschaftlichen Blick bestimmen. Auch stilistisch führt Cimino die Erzählweise des Vorgängerfilms konsequent weiter: Schon der Harvard-Prolog verweilt lange beim Tanz und den Festlichkeiten der Abschlußfeier, damit wir in die Welt des Films eintauchen können; auch darüber hinaus läßt sich der dreieinhalbstündige Film unendliche Zeit für alle Vorgänge, drängt das Drama nicht in den Vordergrund und erlaubt in sehr offener Bildgestaltung, selber Bedeutungen und Wichtigkeiten zu erschließen – der Fokus liegt, fast mehr noch als in DIE DURCH DIE HÖLLE GEHEN, im Erleben, im Sehen und Fühlen, und nicht im Narrativen.

Die Abschlußfeier in Harvard: Die Studenten tanzen den Donauwalzer.

Damit kann HEAVEN’S GATE mitunter eine frustrierende Filmerfahrung sein: Die Geschichte ist trotz ihrer Mehrdeutigkeiten nicht komplex strukturiert, sondern orientiert sich an den eher kargen Plots klassischer Western. Weil also wenig narrativer Impetus vorherrscht und der Film sich bei seinem Schrittempo auch oft noch Zeit für lange Stimmungssequenzen nimmt – wie beispielsweise den Tanz in Harvard, der zum Donauwalzer von Johann Strauß vollzogen wird – ist vom Zuseher ein gewisses Maß an Geduld gefragt, die vor allem beim ersten Ansehen, wenn man gewissermaßen das Gesamtbild noch nicht kennt, durchaus strapaziert wird. Sehr zugänglich ist der Film nicht.

Und doch ist er eine lohnenswerte Angelegenheit, vor allem beim mehrfachen Betrachten – wie ich selber feststellen durfte, nachdem ich mich bei der ersten Sichtung noch zu sehr an der Gemächlichkeit der Erzählung und einigen nicht ganz geschickt gehandhabten Elementen gestört habe. Dazu zählt zum Beispiel die erste Szene mit Nate Champion, der in einer sehr stimmungsvoll arrangierten Szene als Schatten hinter einem Leintuch auftaucht, bevor er einen Siedler erschießt – aber sein Gesicht ist durch das Schußloch im Tuch nur so kurz zu sehen, daß sein zweites Auftauchen in der Handlung, viele Minuten später, durchaus verwirren kann. Auch in der Schlacht zwischen den Söldnern und den Einwanderern zum Schluß gibt es so einen merkwürdigen Moment, wo ein Mensch, der der von Jeff Bridges gespielten Figur sehr ähnlich sieht, erschossen wird – und das passiert so schnell, daß man sich kurz darauf wundert, warum die Bridges-Figur doch noch lebt.

Bilder für die große Kinoleinwand.

Aber das sind Unvollkommenheiten, die das Besondere des Films keinesfalls reduzieren. Wie in DIE DURCH DIE HÖLLE GEHEN balanciert Cimino eine sehr ambitionierte Erzählung zwischen Epos und intimen Momenten und versucht einem Gefühl Ausdruck zu verleihen, das sich schwer in Worte fassen läßt. Er reißt wieder eine Vielzahl an Bedeutungen an, die sich nicht aufdrängen, aber bei näherer Betrachtung sehr reichhaltig ausfallen. Und all die Sequenzen, die nicht narrativ motiviert zu sein scheinen – wie beispielsweise ein ausgedehntes Fest im Dorf, bei dem die Musiker und die Bewohner mit Rollschuhen tanzen – sind keinesfalls so willkürlich in das Prozedere hineingeworfen, wie es zunächst wirken mag: Die erwähnte Festsequenz fungiert in ihrem lebhaften Tumult als Kontrapunkt zur formell gehaltenen Harvard-Feier, so wie viele andere Elemente und Figuren auch als Paare oder Gegenpole funktionieren.

Unabhängig von seiner Struktur und seinen durchaus vorhandenen Problemen ist HEAVEN’S GATE aber auch einfach ein Film des Sehens. In der Laufzeit des Films entsteht ein glaubwürdiger Wilder Westen vor uns, der so detailreich inszeniert wurde – Ciminos Perfektionismus ging angeblich soweit, daß er sogar die Statisten einzeln auswählte und ihnen höchstselbst die Krawatten zurechtrückte – daß er spürbar wird. Kameramann Vilmos Zsigmond, mit dem Cimino auch schon bei DIE DURCH DIE HÖLLE GEHEN arbeitete, malt mit dem Licht wie ein großer Meister mit den Ölfarben: Alles ist in sehnsüchtige Wärme getaucht, in hoffnungsvolles Strahlen oder in entrückendes Gleißen. Rauch und Dampf und Staub wehen fast plastisch durch die Bilder; die Landschaftsaufnahmen entfalten eine beinahe mythische Wirkung. Man könnte jedes Bild einrahmen und an die Wand hängen. Und wenn Averill und Ella bei dem Fest durch den Saal tanzen, der plötzlich leer ist, weil für die beiden in diesem Moment nur der jeweils andere existiert, dann wird auch klar, daß Cimino mehr an Poesie als an Plot interessiert ist.

Die Poesie der amerikanischen Landschaft.

„We disclaim all intention of making a change …“: Was Cimino mit diesem Satz und dem Ende, in dem Averill wieder zur reichen Oberschicht gehört, suggeriert, ist nicht nur, daß die Figuren darin scheitern werden, die bestehenden Verhältnisse zwischen den Klassen zu ändern. Er deutet auch an, daß diese alte Westerngeschichte heute noch aktuell ist, eben weil sich nichts geändert hat – das Ideal des Landes wird immer noch beschworen, die Wirklichkeit sieht für seine Menschen immer noch anders aus. Vielleicht liegt in dieser Kluft auch die Bedeutung des Filmtitels, der im Film nur als Name der örtlichen Rollschuhbahn auftaucht: Das Himmelstor ist ebenso wie das Land Amerika ein Versprechen an die Menschen, daß es ihnen dort besser gehen wird. Aber dieses Versprechen ist in seinem allumfassenden Anspruch eine Illusion: Wir können nur auf einen Ort hoffen, wo uns vielleicht – wie für die feiernden Einwanderer und Averill und Ella im „Heaven’s Gate“ – etwas Gemeinschaft und ein wenig Liebe erwarten. Und solange das Versprechen existiert, solange kämpfen wir darum, so einen Ort zu erhalten.

 

 

Heaven’s Gate – Das Tor zum Himmel (USA 1980)
Originaltitel: Heaven’s Gate
Regie: Michael Cimino
Buch: Michael Cimino
Kamera: Vilmos Zsigmond
Musik: David Mansfield
Darsteller: Kris Kristofferson, Isabelle Huppert, Christopher Walken, Jeff Bridges, Sam Waterston, John Hurt, Joseph Cotten, Brad Dourif, Richard Masur, Terry O’Quinn, Tom Noonan, Mickey Rourke, Geoffrey Lewis

Die Screenshots stammen von der französischen BluRay (C) 2013 Carlotta Films / Allerton Films.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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