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FAST & FURIOUS 6: Erinnerungsarbeit und magischer Realismus

Es war einmal ein schnittiges Actiondrama namens THE FAST AND THE FURIOUS, in dem ein Undercoveragent in der Welt illegaler Autorennen ermittelte. Das funktionierte so wie GEFÄHRLICHE BRANDUNG, nur daß statt Patrick Swayze schnelle Autos mitspielten und statt einem Surfbrett Vin Diesel zu sehen war. Oder war das umgekehrt? Egal: Die Sause war geschmeidig gemacht und höchst erfolgreich, weshalb die Sequelmaschine immer neue Gründe ausknobeln mußte, warum Menschen schnell fahren. Teil 6 der nimmermüden Adrenalinschleuder hakt einen wichtigen Punkt auf der Liste von Motivationen ab: Vin Diesel und Paul Walker rasen wie die Irren über eine Bergstraße, weil sie zu spät zur Geburt von Walkers Sohnemann zu kommen drohen. Weil wir uns noch vor dem Vorspann befinden, stürzt dabei noch niemand die Klippen hinab und klettert im Fall über einen ebenso herabstürzenden Laster wieder nach oben. Aber nachdem dann mal der Titel eingeblendet wurde, kann man sich da nicht mehr so sicher sein.

Wir erinnern uns: Diesel, Walker und die vielen anderen schönen Menschen, die sich auf dem Plakat tummeln, haben am Ende des fünften Teils ein wenig Geld mitgehen lassen – $100 Millionen, also $60 Mio. zuwenig für diese Fortsetzung – und leben nun das entspannte Leben in der Art von Ausland, von wo aus keine Banditen ausgeliefert werden. Derweil macht ein misanthroper Terrorist namens Shaw die Welt unsicher und klaut Bauteile für irgendeine Superwaffe, die etwas so Ungeheuerliches kann, daß ich es schon beim Abspann wieder verdrängt hatte, um nicht wahnsinnig zu werden. Weil Übercop The Rock nicht gern allein auf Terroristenjagd gehen will, holt er sich Verstärkung von Diesel und seiner Gang. Er verspricht ihnen dafür Generalamnestie – vielleicht auch Generalamnesie, wenn sie nur hart genug mit dem Kopf auf das Lenkrad knallen; außerdem zeigt er aktuelle Photos von Michelle Rodriguez her, die eigentlich schon im vierten Teil der Reihe die Zündkerzen abgeben mußte.

So macht sich Diesel mit seinem Automobilclub auf den Weg, um Shaw zu stoppen und gleichzeitig herauszufinden, wieso Rodriguez noch am Leben ist. Gleich beim ersten Einsatz in London fühlt man sich als Zivilbürger wieder optimal beschützt: Bei der Jagd nach Shaw fliegen die Autos so herzhaft durch die Luft und krachen dabei in lästigerweise im Weg herumstehende Londoner Bauwerke, daß die Regierung wahrscheinlich nächstes Jahr allein für die Instandsetzungsmaßnahmen sämtliche Steuern erhöhen muß.

Rodriguez, die hier nach RESIDENT EVIL: RETRIBUTION schon in ihrer zweiten Franchise wiederbelebt wird und deswegen sicher hoffnungsfroh auf die geplanten AVATAR-Sequels blickt, ist aber gar nicht erfreut über das Wiedersehen mit Vin Diesel: Sie schießt ihm in die Schulter. Im Hauptquartier operiert sich Diesel die Kugel mit langer Pinzette im Stehen selber heraus und bewegt dabei nur kurz den Mundwinkel. Wahrscheinlich, weil auch seine Gefühle verletzt wurden.

Es stellt sich heraus, daß Rodriguez das Gedächtnis verloren hat und beinahe so wie ich keine Ahnung mehr hat, was in den Teilen 1-4 geschah. Deswegen arbeitet sie nun für Shaw. Diesel macht sie bei einem illegalen Autorennen in London ausfindig und tritt dort (unter Verfolgung der Polizei und knapper Verfehlung hunderter von Zivilisten) gegen sie an; danach erklärt er ihr auf einem Parkplatz, wo ihre ganzen Narben herkommen, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Nicht viele Menschen wissen, daß Erinnerungsarbeit im Altenheim fast genauso funktioniert.

In der Zwischenzeit kommt Walker darauf, daß Shaw mit einem in Amerika inhaftierten Drogenbaron zusammenarbeitet, der schon in Teil 4 dabei war. Leider kann Walker nicht einfach so in die Staaten, weil man ihn dort sofort festnehmen würde. Um an weitere Informationen zu kommen, heckt er also folgenden cleveren Plan aus: Er bittet einen befreundeten FBI-Agenten, ihn als Gefangenen in das entsprechende Gefängnis zu schmuggeln. Dort verprügelt er seinen Kumpel, um in Einzelhaft zu kommen – wo auch der Drogenmensch sitzt (wenn man zusammen in Einzelhaft sitzt, ist das dann eigentlich noch Einzelhaft?). Den verprügelt er auch, um eine Rückblende gezeigt zu kriegen, warum Michelle Rodriguez noch lebt. Dann wird er von seinem FBI-Freund wieder außer Landes gebracht. Gelohnt hat sich der Ein-Tages-Trip alleine schon deswegen, weil damit bewiesen ist, daß die Serie PRISON BREAK narrativ nur unnötig in die Länge gezogen wurde.

Wir kommen schon bald zu einer Actionsequenz, die wahrlich nicht in Worte zu fassen ist. Probieren wir’s trotzdem: Shaw kapert einen Militärtransport, mit dem das wichtige Bauteil für die erwähnte Superwaffe in Sicherheit gebracht werden soll (weshalb das Wachpersonal auch bei der Basis bleibt und der Konvoy dagegen nur mit einem Jeep geschützt wird). Unsere Jungs von der flotten Werkstatt halten den Militärlaster mit einem über die Straße gespannten Stahlseil auf – Shaw hat aber schon den im Laster befindlichen Panzer besetzt, mit dem er nun aus dem Laster herausspringt und in Hochgeschwindigkeit den Highway entlangrast. Tyrese Gibson, einer der lustigen Mannen aus dem Diesel-Team, fährt seinen Wagen direkt vor den Panzer und wird davon dann durch die Gegend geschoben (andere entgegenkommende Fahrzeuge werden natürlich plattgefahren oder mit der Kanone pulverisiert). Zum Glück kann er aus dem fahrenden Wagen klettern, ein Stahlseil am Kanonenrohr befestigen und … ach, vermutlich muß man es doch wirklich sehen, wie dann alles damit endet, daß Menschen über Schluchten fliegen und nicht etwa beim Aufprall aufeinander herunterfallen, sondern sich auf der anderen Brückenseite gemütlich auf einer Windschutzscheibe abrollen. Nennen wir es einfach magischen Realismus.

Weil aber Regisseur Justin Lin, der die Reihe schon seit Teil 3 betreut, ein großer Freund des Absurden ist und sich mit herumfliegenden Panzern nicht begnügt, gibt es auch noch ein Finale, in dem Shaw mit einem Flugzeug zu entkommen versucht, während Diesel und seine Entourage mit den Autos hinterherhetzen und versuchen, das Ding am Abheben zu hindern. Da hängen irgendwann drei Wagen unten am Flieger, innen drin kloppt sich The Rock mit dem wahrscheinlich einzigen Typ Hollywoods, der einen gleich großen Bizeps hat, und alle rasen sie auf einem unendlichen Runway, der wahrscheinlich die ganze Strecke von Spanien bis Rumänien gerade durchgeht.

Oh ja, FURIOUS 6 – wie der Streifen im Vorspann knapp heißt – ist ein wundervoll überdrehter Spaß, der nicht eine Sekunde lang Sinn macht und doch für seine kreative Schrottarbeit ständigen Beifall erhalten sollte. Die Jungs aus Diesels Gang machen in der letzten Szene das Nächstbeste: Sie sprechen ein Tischgebet.

 

Fast & Furious 6 (USA 2013)
Originaltitel: Furious 6
Regie: Justin Lin
Buch: Chris Morgan
Musik: Lucas Vidal
Kamera: Stephen F. Windon
Darsteller: Vin Diesel, Paul Walker, Dwayne Johnson, Jordana Brewster, Michelle Rodriguez, Tyrese Gibson, Sung Kang, Gal Gadot, Ludacris, Luke Evans, Elsa Pataky, Gina Carano, Shea Whigham

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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