Ich erinnere mich, wie INCEPTION beschrieben wurde, als ich das erste Mal davon gelesen hatte: Als kleines Zwischenprojekt für Nolan nach seinem Comicepos THE DARK KNIGHT, ähnlich wie er THE PRESTIGE als kleineres Projekt nach BATMAN BEGINS anging. Nun war THE PRESTIGE budgetär wirklich nur nach Hollywood-Studio-Maßstäben klein, aber man merkte, daß da nicht in so großem Rahmen wie bei Batman erzählt wurde, ohne die leinwandsprengenden Orte, Bilder und Effekte. Was nichts daran ändert, daß Nolan im großen wie im kleinen Setting viel zu sagen hat: All der Aufwand auf der einen und all die Beschränkungen auf der anderen Seite stehen bei ihm stets schlüssig im Dienste einer packenden Darstellung menschlicher Schattenseiten – Rache, Betrug, Obsession, Schuld, alles eingepackt in die stetige Frage um die eigene Identität. Weil Nolans Figurenzeichnungen immer mit entsprechendem Gravitas versehen sind, wirken selbst seine Low-Budget-Filme groß.
Das kleine Projekt INCEPTION blieb allerdings nicht lange ein Zwischenwerk: Plötzlich spielte Leonardo DiCaprio die Hauptrolle, plötzlich war er flankiert von einer Schauspielriege, die Ellen Page, Michael Caine, Marion Cotillard und Cillian Murphy umfaßte, und schlußendlich stand das Budget bei 200 Millionen Dollar. INCEPTION ist nun ein veritabler Blockbuster, und wo ihm dieses Herzblutprojekt ursprünglich wegen der gigantischen Erfolge seiner Batman-Interpretationen bewilligt wurde, transportiert ihn der Film jetzt endgültig in den kleinen Club solcher Regisseure, die es schaffen, Großproduktionen kommerziell höchst erfolgreich zu stemmen und sie gleichzeitig mit ihrer ganz eigenen Persönlichkeit zu prägen – Spielberg ist Mitglied des Clubs, Cameron ebenso, und danach darf man über die Anwärter schon wieder diskutieren.
Wie passend eigentlich, daß die beeindruckenden Schauplätze in INCEPTION hauptsächlich im Kopf zu verorten sind: Ein Großteil des Films spielt in unwirklichen Gedankenwelten. Aufhänger ist eine wie selbstverständlich behandelte Technologie, die es erlaubt, in die Träume einer anderen Person einzusteigen. Dom Cobb (DiCaprio) arbeitet als hochbezahlter Gedankenspion, der sozusagen im Geiste anderer Leute Industriespionage betreibt. In der wirklichen Welt lebt er beinahe nomadisch, weil er vom FBI gejagt wird und ihm die Einreise in die Staaten, wo seine Kinder leben, verweigert wird. Weil ihm in Aussicht gestellt wird, daß diese polizeilichen Eintragungen gelöscht werden können, nimmt er einen Auftrag an, bei dem er nichts aus dem Kopf der anderen Person stehlen soll, sondern etwas hineintragen muß: Er soll eine Idee einführen. Ein junger Mogul soll die von seinem Vater geerbte Firma auflösen. Und der Impuls dazu muß aus seinem eigenen Kopf kommen.
Für die Struktur von INCEPTION stand vielleicht Edgar Allan Poe Pate, beziehungsweise dessen gerne zitierte Zeilen: „Is all that we see or seem / But a dream within a dream?“ Die Handlung spaltet sich nämlich nicht in eine Wirklichkeits- und eine Traumebene auf, sondern in viele ineinander verschachtelte Traumebenen – es ist nämlich in jeder Traumwelt möglich, wiederum in einen tieferen Traum einzusteigen: weiter herab ins Unterbewußtsein sozusagen. Weil sich im Traum die Zeit dehnt – fünf Minuten Schlaf fühlen sich an wie eine Stunde im Traum – weiten sich die Zeitspannen mit jeder weiteren Traumebene aus: Im Traum-im-Traum wird aus der einen Stunde zwölf Stunden. Soweit das theoretische Konstrukt, auf dem Nolan einen komplexen Thriller und die Geschichte der Aufarbeitung einer Schuld erzählt. Wie genau die einzelnen Ebenen dann zusammenspielen und welche Räume dabei erforscht werden, braucht hier nicht erörtert zu werden – denn eine der Freuden des Films ist es, mit den Figuren tiefer in die Gedankenwelten einzusteigen und die Einzelteile nach und nach zu einem Ganzen zusammenzufügen.
Wie in fast allen Nolan-Filmen ist die Erzählung fragmentiert, das Spiel mit den Identitäten und Wirklichkeiten als Puzzle konstruiert: So wie Leonards Person in MEMENTO in einzelnen Rückwärtsschritten zusammengesetzt wird, tasten wir uns hier auf verschiedenen Bewußtseinsebenen an die Persönlichkeiten der Figuren heran. Wie Will Dormer in INSOMNIA durch die Schlaflosigkeit immer weniger vor seiner Schuld davonlaufen kann, gerät Cobb hier in immer tieferen Traumebenen näher an den Ursprung seiner eigenen Schuldfrage. Auch sonst fügt sich INCEPTION in die bisherigen Nolan-Motive ein: Schon in FOLLOWING brachen zwei Menschen (einer von ihnen trägt den Namen Cobb!) in das Leben anderer ein und hinterließen dort Spuren. Wie in INSOMNIA gewinnt ein rätselhaftes, seinem Kontext entrissenes Bild für den Zuseher an Bedeutung (dort der rotgefärbte Stoff in Nahaufnahme, hier eine Einstellung von Marion Cotillard, die ihren Kopf an einen Eisenträger hält). Und wie in THE DARK KNIGHT passieren viele Ereignisse in Parallelmontagen in verschiedenen Handlungssträngen, weil auch in dieser Hinsicht Nolans Universum in Einzelteile gesplittert ist.
Seine Schauwerte hält der Film für einen Blockbuster dieser Größenordnung bemerkenswert lange zurück: Es dauert eine ganze Zeit, bis vorgeführt wird, wie Cobb und seine Helfer in die Träume eingreifen können – und dann biegt sich die Straße und faltet sich über die Protagonisten, als würde man ein Blatt Papier zusammenlegen, und rings um die Figuren explodiert die ganze Wirklichkeit, weil der Traum in sich zusammenfällt. Bis der Streifen zu seinen wirklich üppigen Effekten kommt – ein Zug donnert durch eine Straße, Wolkenkratzer brechen in sich zusammen, eine Festung in Schnee und Eis explodiert, und die Figuren fallen durch die Luft, weil sich der Schwerpunkt der Schwerkraft stetig ändert – ist man so eingebunden in das erzählerische Netz und den emotionalen Kern der Geschichte, daß kein einziger Schauwert wie Selbstzweck erscheint, sondern immer schlüssig aus der Story heraus entwächst.
Denn freilich nützen alle Verwirrungen und jeglicher Bombast nichts, wenn die Geschichte nicht in einer interessanten menschlichen Realität fußt. Und genau hier hat Nolan schon immer seine wahre Stärke gezeigt: Bei aller narrativen Cleverness, bei aller Opulenz und inszenatorischer Eleganz gewinnen seine Filme hauptsächlich durch ihren menschlichen Kern an Gewicht. So wie BATMAN BEGINS eigentlich eine Geschichte über einen Menschen ist, der von Rachegefühlen zerfressen wird, und so wie THE PRESTIGE eigentlich die Geschichte einer tragischen Rivalität zweier Menschen ist, die Freunde sein könnten, so ist INCEPTION in seiner Essenz die Geschichte eines Mannes, der sich dem stellen muß, was er selbst getan hat. Und wenn dann die letzte Stunde des Films als langer, intensiver Klimax mit donnernder Musik und immer größeren Bildern die Leinwand bearbeitet, sind wir so in das emotionale Drama eingebunden, daß sich das teure Spektakel nicht eine Sekunde lang anfühlt wie die hohlen Materialschlachten von Emmerich und Bay – in denen es ja nie um Menschen (Bay) bzw. ihre individuelle Menschlichkeit (Emmerich) geht.
INCEPTION ist vieles zugleich: Ein Thriller, ein heist movie, ein Drama, und ein Science-Fiction-Film. Er ist auch eine Reise ins Unterbewußtsein. Und er ist ein Film über das Kino selbst, darüber, wie Bilder entstehen und manipuliert werden, und wie diese erschaffenen Bilder manchmal eine Idee in unsere Köpfe setzen können. Und hauptsächlich – und diese alte Phrase muß hier erlaubt sein – ist er eines: Ganz großes Kino.
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