Eine Hetzjagd über vier Kontinente, durch neun Länder, jahrelang vorbereitet und über ein Jahr lang tatsächlich gedreht, mit einem Budget von $25 Millionen und einer – in seiner endgültigen Form – Lauflänge von knapp fünf Stunden: BIS ANS ENDE DER WELT ist sicherlich Wim Wenders‘ ambitioniertester Film. 1991 kam der Film in einer auf knapp drei Stunden zurechtgestutzten Version ins Kino, zehn Jahre später konnte er die 279-Minuten-Fassung für das DVD-Format restaurieren und seiner epischen Reflektion über die ruhelose Jagd nach Bildern und deren explodierende Präsenz die ausufernde Erzählweise geben, die er seinerzeit angestrebt hat.
Der Film spielt im Jahr 1999 – zum Zeitpunkt der Entstehung also die nahe Zukunft – und die Welt steht unter der latenten Bedrohung eines Atomschlags, weil ein Nuklearsatellit gesprengt werden soll. Die Geschichte beginnt in Venedig, wohin es die junge Claire Tourneur (Wenders‘ unlängst verstorbene Lebensgefährtin Solveig Dommartin) auf ihrer endlosen Suche nach Bedeutung und Lebenssinn hinverschlagen hat. Sie läßt ihren dortigen Liebhaber zurück und reist weiter, ohne tatsächliches Ziel, und trifft in Südfrankreich einen mysteriösen Mann namens Trevor McPhee (William Hurt), der offenbar verfolgt wird. Sie nimmt ihn mit dem Auto bis nach Paris mit, wo sie sich verabschieden, aber Claires Gedanken bleiben bei Trevor – liegt es an den merkwürdigen Pygmäengesängen, die er ihr während der Fahrt vorgespielt hat? Ist es die reine Neugierde, vor wem oder was McPhee sich auf der Flucht befindet? Oder liegt es doch nur an der Tatsache, daß er ihr ein wenig Geld gestohlen hat?
Claire kehrt nach Hause zurück – in die Wohnung ihres ehemaligen Lebensgefährten Eugene Fitzpatrick (Sam Neill), der gleichzeitig der Erzähler der Geschichte ist und uns im Vorfeld schon hat wissen lassen, daß er Claire die Freiheit gibt, ihrer Ruhelosigkeit nachzugehen. Es wird uns schnell klar, wie sehr er sie liebt, und er hofft, daß sie finden kann, wonach sie sucht, damit sie dann zu ihm zurückkehrt. Noch hat sie es nicht gefunden, aber sie hat jetzt ein Ziel: Trevor wieder aufzuspüren.
Eine ganze Reihe weiterer Figuren werden in Claires obsessive Suche hineingezogen: Ein Privatdetektiv namens Philip Winter, den sie anheuert, Trevor zu finden. Ein CIA-Agent, der nach Trevor sucht. Ein Bankräuber, für den Claire einen Geldtransport erledigen sollte. In alle Winkel dieser Welt verschlägt es Claire, und sie stöbert Trevor auf, der sie kurz an sich heranläßt und dann wieder verschwindet. Fitzpatrick kann nicht verstehen, warum Claire die Suche nie abbricht, und er hilft ihr immer wieder mit Geld aus, obwohl sie ihn doch nur solange braucht, bis sie Trevor gefunden hat. Nach und nach kommt heraus, daß Trevor eigentlich Sam Farber heißt und mit einem Aufzeichnungsgerät durch die Welt reist, daß es blinden Menschen ermöglichen kann, die aufgenommenen Bilder zu sehen.
Wenders filmt diesen Part der Geschichte, der sich auf dem Papier wie eine Mischung aus Thriller und Liebesdrama liest, in einer rauschhaften Opulenz der Bilder – er läßt seine Figuren durch weite Landschaften und grell leuchtende Städte irren, durch Portugal, Russland, China und Amerika, aber das Tempo ist getragen, der Soundtrack unwirklich. Wer wo mit wem Allianzen bildet und welche Ziele verfolgt, ist nebensächlich, weil hinter allem Claires Sehnsucht nach etwas Bedeutendem steht, und ihre – ihr selbst nicht einmal bewußte – Hoffnung, daß der Mann, dem sie hinterherjagt, sie dorthin führen könnte. Wie wenig Claire sich selber kennt, wird schon durch ihr Äußeres deutlich: Die schwarzen, glatten Haare, die wir an ihr sehen, entpuppen sich nach einiger Zeit als Perücke, unter der eine blonde Lockenpracht zu Tage kommt, mit der sie wie ein anderer Mensch aussieht.
Irgendwann sind alle Figuren in Australien angelangt, und Claire und Sam – mittlerweile ein Paar – reisen ins Herz der Outbacks, wo Sams Eltern bei einem Aborigine-Stamm leben. Die Bilder hat er für seine blinde Mutter gesammelt; sein Vater arbeitet an der Technologie, sie diese Aufnahmen sehen lassen zu können. Als die beiden im Flugzeug über die australische Wüste fliegen, zerreißt gleißendes Licht den Himmel – der Nuklearsatellit wurde tatsächlich gesprengt. Durch den elektromagnetischen Puls fallen die Maschinen aus, und beide müssen notlanden. Nachdem sie ihre Reise bis ans Ende der Welt geführt hat, stellt sich nun die Frage, ob sie das Ende der Welt hier vielleicht einholt.
Im Dorf des Aborigine-Stammes treffen alle wieder zusammen – Sam und Claire, Fitzpatrick, Winter, der Bankräuber – und Sam macht sich mit seinem Vater gleich daran, seiner Mutter die gesammelten Bilder zu übermitteln. Während die Radios schweigen und die Angst in der Luft liegt, ob die kleine Gruppe vielleicht die einzigen Überlebenden einer atomaren Katastrophe sein könnten, schaffen es Sam und sein Vater nach einiger Zeit tatsächlich, Sams Mutter die Videoaufnahmen sehen lassen zu können.
Die Erfahrung ist überwältigend für die alte, blinde Frau, und in ihrer jetzt abgeschotteten Welt ist es ein Wunder, daß sie ihre Verwandten doch noch zu sehen bekommt. Aber nach einiger Zeit kosten sie die Aufzeichnungen zu viel Kraft, und irgendwann stirbt sie. Sams Vater stürzt sich in die Arbeit, um mit seiner Technologie einen Schritt weiterzugehen – er will die Träume der Menschen aufzeichnen. Während er in seinen Träumen auf der Suche nach seiner verstorbenen Frau ist, werden Sam und Claire nach und nach abhängig von den Bildern ihres eigenen Unterbewußtseins, und ziehen sich immer mehr in ihre aufgezeichneten Traumwelten zurück.
Nach den rastlosen Reisen des ersten Parts konzipiert Wenders diesen zweiten Teil als Reise nach innen: Die zuvor gesammelten Bilder werden reflektiert und führen immer weiter in die Seelen der Protagonisten hinein, die nach und nach an ihnen zugrunde gehen. Die Gegensätze zwischen der heilenden Kraft der Bilder und ihres zerstörerischen Potentials spiegeln sich wider in der Gegenüberstellung von Natur und Technik – der Aborigine-Stamm und das Labor des Vaters – und in der Ungewißheit, ob die Welt außerhalb des Dorfes überhaupt noch existiert, während die „Gestrandeten“ Hoffnung in der Musik finden. Hängt der Tod von Sams Mutter mit der Grenzüberschreitung zusammen, daß eine Blinde wieder sehen kann? Wird Claire von ihren Traumaufzeichnungen vielleicht deshalb abhängig, weil sie sich selber immer noch nicht gefunden hat?
Es stellt sich heraus, daß Fitzpatrick – der Erzähler und gleichzeitig Autor eines Buches über die Geschichte, der wir zusehen – das Gegengewicht zur Bilderflut darstellt. Er faßt die Geschichte in Worte und glaubt an die Kraft ebendieser. „Am Anfang war das Wort“, sagt er an einer Stelle, „ich hoffe nur, daß nicht am Ende des Buches der Apokalypse steht: Am Ende war das Bild“. Wenders verdammt das Bild nicht – zu sehr schwelgt er selber darin, zu emotional aufgeladen ist die Sequenz, in der Sams Mutter sehen kann – aber er betont, daß das Wort der Grundstein des Geschichtenerzählens ist. In Anbetracht der atomaren Katastrophe geben die Aborigines ihr Wissen und ihre Geschichten an die junge Generation weiter – mündlich überliefert. Ein alter Aborigine besingt das Land, und Sam erklärt: „Das Land ist wie ihre Bibel. Wenn er aufhört, es zu besingen, dann stirbt es“. So wie Fitzpatrick also seine Geschichte weiterschreibt, kann auch die Welt weiterexistieren, und seine Worte heilen letzten Endes auch Claire, die in ihrer Abhängigkeit vom aufgezeichneten Traumbild nur noch eine lebende Hülle ist.
Man kann über BIS ANS ENDE DER WELT noch viel sagen, schreiben und nachdenken. Natürlich steckt in einem fast fünfstündigen Film viel, was hier nicht einmal ansatzweise angerissen werden kann. Durch seine enorme Länge und die vielen Irrungen, bis die Geschichte zum eigentlichen Kern kommt, schreckt der Film auch sicherlich viele Zuseher ab. Aber es lohnt sich, sich auf diese Reise einzulassen, auf diese Suche nach Bedeutung und Antworten. BIS ANS ENDE DER WELT erzählt von einer Taubheit, die durch die Liebe und durch das Geschichtenerzählen geheilt werden kann. Ohne den Weg wäre die Erkenntnis sinnlos.
Bis ans Ende der Welt (Deutschland/Frankreich/Australien 1991)
Regie: Wim Wenders
Drehbuch: Peter Carey, Wim Wenders
Darsteller: Solveig Dommartin, Sam Neill, William Hurt, Max von Sydow, Jeanne Moreau, Rüdiger Vogler
Länge: 279 Minuten
FSK: 12
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